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Prosa

"Eine gute Geschichte kann nicht erfunden werde,
sie muß destilliert werden."
(Chandler, Raymond: Der tiefe Schlaf. Berlin 1977, S. 615)

* * *

"Wie es keine Literatur ohne Phantasie gibt,
so gibt es keine Phantasie ohne reales Erlebnis."
(Scheer, Maximilian: Ein unruhiges Leben. Berlin 1977, S. 9)

 

Björn Seidel-Dreffke

Traumsplitter

Der See blinkte mit seinem unheimlich wirkenden Blau durch die Bäume. Hier, wo sie beide saßen, merkte man fast nichts von dem Badebetrieb, der sich weiter unten abspielte. Sebastian hatte sich zurückgelehnt und betrachtete seinen Freund, der den Oberkörper bereits entblößt hatte, nun aber innehielt und eine Gestalt beobachtete, die am blauen Rand des Sees entlang ging.

"Ist das ein Mädchen oder ein Junge?" fragte Sebastian und wandte Marc das Gesicht zu.

Sebastian hatte wunderschöne große Augen, die seinem von der Sonne bereits gebräunten Gesicht den Hauch von etwas nicht Hiesigem gaben. Man meinte, es sei da der Schimmer einer anderen Welt, einer nicht irdischen Wirklichkeit. Marc sagte ihm einmal, daß ihm seine Augen unheimlich seien. Unheimlich wie dieses Stück See, das hier durch die Bäume schimmerte und einen gänzlich unerreichbaren Eindruck machte, währenddessen ein paar Schritte weiter der schrille, bunte Badestrand sich in nichts von dem anderer Seen unterschied.

"Ich weiß nicht. Es sieht aus wie ein Mädchen. Dem Schritt nach ist es aber wohl ein Junge. Aber, was kümmert uns das? Warum ziehst du dich nicht weiter aus? Willst du wieder angezogen in der Sonne braten. Das vorige Mal hast du gesagt, du wärst erkältet, und ein anderes Mal hättest du angeblich schon einen Sonnenbrand. Ich kenne dich nur von oben bis unten zugeknöpft", fügte er nach einer Weile etwas vorwurfsvoll hinzu.

Damit berührte er wieder jenen wunden Punkt, der Sebastian, jedesmal, wenn das Gespräch darauf kam, zusammenzucken und einsilbig werden ließ. Zuerst fand Marc Sebastians Zurückhaltung gut. Sie war es, die ihm derartig imponiert hatte, daß er Sebastian nicht mehr aus den Augen ließ. Beinahe täglich rief er bei ihm an, bat ihn darum, mit ihm auszugehen, kaufte Kinokarten und einmal sogar Logenplätze für Tschajkowskis "Schwanensee".

Aber allmählich gab er Sebastian zu verstehen, daß dieses ständige Abwehren jeder Zärtlichkeit und dessen strikte Ablehnung, auch nur ein Stück seines Körpers preiszugeben, auf immer weniger Verständnis seinerseits stieß.

Aber er bewies dennoch Geduld und hatte sich auch allerhand einfallen lassen, Sebastian nun schon zum drittenmal zum Badengehen einzuladen.

Gestern abend sagte er ihm dann, daß er einen großen Wunsch hätte - endlich Sebastians Körper kennenlernen zu dürfen, einmal nur dessen nackte Haut zu streicheln. Er versprach, nicht mehr zu verlangen, als dieser beim ersten Mal zu geben bereit wäre. Vielleicht diesmal beim gemeinsamen Badengehen. Er habe einen See ausfindig gemacht, den er selbst bisher noch nicht gekannt habe. Da gäbe es ruhige Plätze. Rundrum Wald und Sträucher. Nach langem Zögern ließ sich der Freund überreden. Nun aber saß er weiter im Jogging-Anzug neben Marc und machte keine Anstalten, sich wenigstens des Oberteils zu entledigen.

"Sieh mal, Marc, da hinten. Sieht aus, als ob ein Gewitter aufzieht. Ich werde noch warten. Ist doch schon wieder ziemlich kalt geworden."

Marc, der älter als Sebastian war, wirkte traurig.

Er war nicht eigentlich alt, aber für einen ihresgleichen war er wohl doch schon zu alt. Die dunklen abendlichen Parks gaben ihm keinen Platz mehr und auch jene anderen verschwiegenen Orte verschlossen ihre Türen.

Sebastian war froh, daß es so war. Ihn störte der Altersunterschied nicht. Er glaubte, daß hier noch ein wenig Hoffnung war auf etwas, was er von einem Partner erwartete. Ein Traum, den er ein Leben lang geträumt hatte, könnte nun in Erfüllung gehen. Er könnte die Bäume beleben, das Gras, auf dem sie lagen, erwärmen, den einsamen Schwan, den es auf dem See noch nicht gab, herbeizaubern.

Er versuchte, den Reißverschluß des Jogginganzugs zu öffnen, aber die Finger versagten ihm den Dienst.

"Du zitterst ja richtig", lächelte Marc nun, durch Sebastians Hilflosigkeit mit dessen Zurückhaltung versöhnt.

"Soll ich dir helfen?"

"Nein, es geht."

"Du hast ja noch ein Hemd drunter. Ich faß es nicht. Vielleicht bist du wirklich krank."

"Ich wollte dir vorhin im Auto etwas erzählen. Erinnerst du dich?"

"Ja, ja. Du wolltest mir erzählen, warum und wie dich dein, wie du behauptest, erster Freund verlassen hat. Stimmt's?"

"Ja, das ist richtig."

"Nun mach nicht so ein Gesicht. Ich kann warten. Ich will deine Geschichte hören. Wirklich!"

Das klang tröstlich und versöhnte Sebastian wieder mit Marcs manchmal hervortretender ironischer Art. Der See erschien ihm in diesem Moment noch dunkler zu werden, obwohl von Gewitterwolken in Wirklichkeit nicht einmal die Rede sein konnte.

"Der See hat was märchenhaftes an sich, findest du nicht", wandte sich Marc an seinen Freund noch ehe der die Gedanken für die eigene Geschichte ordnen konnte.

"Dann war das vorhin weder Junge noch Mädchen, sondern ein zwergenhafter Waldgeist, der die Sinne verwirrt und allen eine Frage stellt, die niemand beantworten kann."

"Du sprichst wieder mal in Rätseln. Ich hoffe aber, deine Geschichte ist nicht rätselhaft. Ich bin heute zu müde zum Knobeln."

"Nein, es wird eine sehr einfache und klare Geschichte."

"Das glaub ich nicht. An dir ist nichts klar."

Marc zog Sebastian an sich und versuchte, durch die Kleider hindurch dessen Körper zu erspüren. Wieder entdeckte er jenes unheimliche Leuchten in den Augen des Freundes. Der wies auf den See.

"Sieh dir das an, da schwimmt ein Schwan! Ein Schwan. Tatsächlich! Das bringt Glück."

"Aber ein schwarzer, mein Lieber. Schwarze Schwäne sind etwas völlig anderes als weiße Schwäne. Wenn du schon ein geheimnisvoller Waldgeistkenner bist, müßtest du das schon wissen."

"Es ist egal. Ich werde jetzt besser erzählen."

Dies Stück zur Erde gekommenen Traum wollte er sich durch weiters Analysieren nicht zerstören lassen.

"Er hieß Frank und ich lernte ihn in einer Disco kennen. Ich denke, wir waren uns auf den ersten Blick sympathisch. Ich war das erste Mal in einer solchen Disco. Deshalb war ich unheimlich aufgeregt, als er mich ansprach."

"Deine erste Disco? Wie alt warst du denn da? Sechzehn?"

"Nein, achtundzwanzig."

"Du lieber Himmel, da brauche ich mich ja wirklich nicht mehr zu wundern."

"Wir tanzten den ganzen Abend zusammen, obwohl es leider zu wenig Tänze gibt, bei denen man wirklich zusammen tanzen kann. Aber im Prinzip war es ganz gut so. Denn manchmal drückte er mich derartig an sich, daß es unheimlich weh tat."

"Weh tat?"

"Ja, weh tat. Die Operation lag noch nicht lange zurück. Der ganze Brustkorb schmerzte."

"Du bist operiert worden?"

"Ja, aber das kommt später."

"Also bist du wirklich krank gewesen, vielleicht jetzt noch krank. Entschuldige, wenn ich taktlos war."

"Du warst nicht taktlos. Du konntest nichts wissen. Und du weißt ja auch jetzt noch nichts."

"Warte mal, ich fang uns den Salamander da!"

Marc sprang auf und jagte dem rötlichen Tier hinterher, bis dieses ganz plötzlich unter einer Wurzel verschwunden war. Atemlos kehrte er zurück.

"Ich hätte ihn dir geschenkt. Vielmehr unters Hemd geschoben. Dann hätte ich mir von ihm erzählen lassen, was es dort zu sehen gibt."

Marc lachte gutmütig auf und entledigte sich nun auch noch seiner langen Hose, die er mit Rücksicht auf Sebastian bis jetzt anbehalten hatte.

Sebastian bestaunte Marcs muskulösen Körper, dessen Haut, die noch überall straff war und kaum überschüssigen Fettansatz aufwies. Ergebnis harter Trainingsstunden.

"Gib mir deine Hand und erzähl weiter", forderte Marc ihn nun auf.

Sebastian legte seine noch schmale Hand in Marcs kräftige Hände und fuhr fort:

"Wir sahen uns jeden Abend. Es war beinahe wie jetzt mit dir."

"Du willst mich eifersüchtig machen?"

"Nein. Wir trafen uns nur in Kneipen. Er versuchte ständig, mich zu sich einzuladen. Aber ich wollte nicht mitgehen."

"Genau wie mit mir ..."

"Ja."

"Du erzählst nicht etwa unsere Geschichte? Bis auf die Disco stimmt alles."

"Nein, ich hoffe nicht, daß es auch unsere Geschichte wird."

"Na, da bin ich ja beruhigt." Marc rekelte sich. "Schön in der Sonne. Du ahnst nicht, was du verpaßt."

"Er stellte mich sogar seinen Eltern vor. Die schienen auch ganz angetan von mir zu sein. Die Mutter hatte russischen Zupfkuchen gebacken und der Vater versuchte, mir einen Wodka nach dem anderen einzuhelfen."

"Das können nicht meine Eltern gewesen sein."

Marc lachte.

"Nein. Schließlich überredete er mich mit ihm nach Holland zu fahren. Er mochte Blumen. Besonders Tulpen. Ich wollte nicht, aber er schaffte es schließlich, mich zu überzeugen. Dazu gehörte auch nicht mehr viel. Ich hatte mich inzwischen in ihn verliebt."

"Daraus muß ich für mich ja recht traurige Schlüsse ziehen", versuchte Marc nun ein zu betrübtes Gesicht zu machen, was ihm natürlich nicht gelang.

"Wir fuhren los. Es war ein regnerischer Sonnabend. Auf der Autobahn kamen wir überhaupt nicht voran. Mehrere Staus hintereinander. Frank fluchte. Dann schlug er vor, zu einem Rasthof zu fahren. Er war müde. Es war bereits später Nachmittag. Vielleicht etwas essen. Warten, ob der Stau sich auflöst oder in die nächste Stadt fahren."

Marc begann inzwischen, Sebastians Hemd aufzuknöpfen. Er strich über die leicht behaarte Brust, fuhr an den Narben entlang, ohne zu fragen, woher sie denn stammten. Sebastian schloß die Augen. Wenn er sich doch fallenlassen könnte. Nur für einen Augenblick. Aber er mußte erst seine Erzählung beenden.

"Frank stellte das Auto ab. Wir erhielten im Motel ein Zimmer."

Marcs Finger glitten inzwischen tiefer. Sebastian ließ es geschehen, daß sie auch die restliche Kleidung abstreiften.

"Du hast einen sehr schönen Körper" sagte Marc. "Wie du dich immer geziert hast, hätte man ja sonst was annehmen können."

Er wollte Sebastian berühren, doch der hielt seine Hand fest. Mit mehr Kraft als ihm zuzutrauen war.

"Hör bitte erst zu."

"Ist ja schon gut."

"Wir stellten die Sachen im Zimmer ab und alberten rum. Er warf mich aufs Bett und begann, mich auszuziehen, ähnlich wie du jetzt eben.

Da hab ich ihm gesagt, daß mein Körper, so wie er damals war, noch nicht sehr alt ist. Ich habe ihm versucht zu erklären, daß ich 27 Jahre in einem Körper gelebt habe, der meiner Seele nicht entsprach, einem Körper mit weicher Haut und Brüsten. Es fiel mir nicht leicht, darüber zu sprechen. In mir krampfte sich bei der Erinnerung an diesen Zustand alles zusammen. Ich mußte es ihm sagen, denn er hätte ja doch gemerkt, daß etwas nicht stimmt. - Da zog er seine Hand zurück. Und er sah mich sehr lange sehr traurig an.

Dann stand er auf, zog sich an und ließ mich allein im Motel zurück."

Marc war aufgesprungen. Ein Schatten verdeckte Sebastian das Entsetzen, daß sich in dessen Gesicht spiegelte. Er ging ein paar Schritte zurück und blieb stehen.

Der See war inzwischen tief dunkelblau verfärbt. Es sah aus, als würde der schwarze Schwan mit der Farbe des Wassers verschmelzen.

Marc beugte sich zu Sebastian nieder und sah ihn sehr lange sehr traurig an.

 

Airin

Das Märchen vom Engel

Es war einmal ein Engel, ein großes feines Wesen, das ganz in goldenem Licht schimmerte. Er war schon sehr viel gereist, hatte viele Erfahrungen in diesem Universum gemacht und war an ihnen zu einer weisen, alten Seele gewachsen.

Wohin er auf seinen Reisen kam, dort verbreitete er ein goldenes Licht und verströmte seine Liebe, diese große, heilende Kraft, die aus seinem innersten Wesen hervorquoll.

Doch er war auch sehr neugierig, und so führte ihn seine Reise zu einem ganz seltenen, besonderen Planeten. Schon von Weitem war er auf sein Blau, sein Weiß und sein saftiges Grün aufmerksam geworden. Je näher er kam, desto mehr zog dieser Planet all seine Aufmerksamkeit auf sich. So etwas hatte er noch nie gesehen - diesen Ort wollte er näher erkunden. Er spürte, etwas war hier besonders. Hier war alles so viel dichter als draußen, in den Weiten des Weltalls und auf den vielen anderen Orten, die er bisher besucht hatte. Er beriet sich mit den anderen geistigen Wesen, die er in der Umgebung dieses Planeten traf. Jedes von ihnen hatte eine besondere Aufgabe übernommen und unterstützte das, was hier geschah, auf seine Weise.

Sie sagten: "Willkommen, hilf uns dabei, das Energiefeld dieses Planeten zu stabilisieren!"

Andere sprachen von Menschen, die auf der Oberfläche des Planeten lebten. Es sei eine ganz besondere Art.

"Sie brauchen unsere Unterstützung. Du kannst sie von hier aus begleiten, wenn du möchtest!"

Ganz fasziniert betrachtete unser Engel, was dort unten auf Gaia, wie die anderen Engel diesen Planeten nannten, geschah. Warum sollte er nur hier oben bleiben? Es sei gefährlich, sich Gaia noch mehr zu nähern. Astralgürtel, Emotionen gäbe es dort, Engel würden sich dort verlieren, betäubt werden und sie vergäßen, wer sie seien.

Unser Engel mochte es nicht glauben. Es war so bunt da unten, so ... so ganz anders. Das wollte er sich näher anschauen. Als kosmischer Wissenschaftler wollte er eben alles genau wissen.

"Du darfst nicht noch tiefer gehen, mein Freund", warnte ihn einer der Engel. "Deine feinen Energien werden verpuffen, sich zerstreuen. Es ist ein sehr gefährlicher Ort für uns! Wenn Du Dich unbedingt dort aufhalten willst, kannst Du nicht so gehen, wie du bist. Du brauchst eine Art Raumanzug, einen Schutz vor den groben, dichten Kräften dort unten. So machen es die Menschen auf Gaia. Sie nennen es Körper. Doch Vorsicht, sie vergessen so oft, daß sie auch Wesen sind wie wir und identifizieren sich mit diesem Körper!"

"Körper. Aha. Kannst Du mir so einen Körper geben?" fragte er.

"Ich warne Dich, El-Malayne (denn so wurde unser Engel von seinen Geschwistern genannt). Du bist in großer Gefahr, es kann sehr viel Leid bedeuten, wenn Du das willst."

Aber El-Malayne hatte sich schon entschieden, wollte nun um jeden Preis einen solchen Körper bekommen. Die Engel, die schon länger in der Umgebung von Gaia gearbeitet hatten, leiteten El-Malayne und zeigten ihm zwei Menschen, die bereit waren, ihm einen solchen Körper zu schenken.

"Es wird schwierig für dich werden. Sie werden Dich nicht mehr bei Deinem wahren Namen nennen und Dir viel Leid zufügen. Aber wir sind bei Dir und werden versuchen, von hier aus wieder Kontakt mit Dir aufzunehmen, sobald das möglich sein wird."

Langsam sank El-Malayne tiefer und bald darauf wurde auf der Erde ein kleines Kind geboren. Oh, welch ein gräßlicher, kalter, grober Empfang! Und wie eng das hier alles war! El-Malayne, der große weise Engel, fühlte sich schmerzhaft eingepfercht in diesem Raumanzug, diesem kleinen hilflosen Körper. Diese zwei wunderbaren Seelen, die ihm den Körper gegeben hatten, wollten ihn auf seltsame Weise nicht verstehen. Wenn er mit ihnen sprach, dann antworteten sie nicht direkt, sondern machten seltsame Laute, die er langsam als Sprache zu deuten lernte. Sie nährten ihn zwar, aber die große Liebe, die er im Austausch mit den anderen Engeln gewohnt war, erreichte ihn hier nicht. Alles war kalt, fremd und er zog sich immer mehr in sich zurück und verkrampfte sich. Es tat weh, er war einsam. Den Schmerz wollte er nicht dauernd spüren müssen und so verlor er mehr und mehr sein Bewußtsein.

Er vergaß, wer er selbst war. Schließlich wußte er wenig von dieser Welt und mußte nun lernen, auf ihr zurechtzukommen. Er vertraute den Menschen, die ihm zeigten, was zu tun sei. Sie lebten ja schon lange hier, also mußten sie es ja wissen. Sie zeigten ihm, wie er sich als Junge unter ihnen zu bewegen hatte. Keine Frage, die anderen mußten ja Recht haben, und so benutzte er seine große Weisheit, die man hier Intelligenz und Verstand nannte, um all den Gesetzen und Regeln zu folgen und zu erfahren, was es damit auf sich hatte, als Mensch auf diesem Planeten zu leben.

Bald wußte er nichts mehr davon, daß er El-Malayne war. Und er wuchs auf, lernte die Gedanken und die Welt der Menschen kennen. Er fühlte sich immer fremd und die Menschen verstanden ihn nie wirklich. Er wollte dazugehören, aber es gelang ihm nicht. Er sei seltsam, hörte er öfter, und man mutmaßte auch, daß er "spinne", wohl nicht ganz richtig im Kopf sei. Aber schließlich war er eine starke Seele, und so verwendete er sehr viel seiner Kraft darauf, ganz so zu werden, wie die anderen das von ihm wünschten. Er machte deren Regeln zu seinen eigenen und vergaß sich ganz in der Anspannung und den Wirren des Erdenlebens.

Der Schmerz über die Enge dieses Erdenlebens mochte ihn nie verlassen und die emotionalen Reaktionen der Menschen waren ihm immer wieder unverständlich und fremd. Er wußte nicht ein noch aus, und wenn nicht tief in ihm immer noch die Erinnerung an das, was er wirklich war, geschlummert hätte, dann hätte er sicher bald beschlossen, diesen Körper zu zerstören, um ihn verlassen zu können. Doch er spürte auch den Wert dieses Lebens, und so versuchte er immer wieder, sich in ein Leben als einer der vielen Menschen einzufügen.

Dennoch entfloh er seinem Körper so oft er konnte, nahm ihn nie richtig in Besitz, und nachts in seinen Träumen war er wieder daheim bei seinen Sternengeschwistern. Es war so schwer für ihn, "Ja" zu sagen zu seinem Hier-Sein und als dieser Körper reifte, war er ganz und gar entsetzt über die Eigendynamik der Triebe, die sich da in ihm entwickelten. Sie waren fremd und bedrohlich für ihn, und zugleich verwirrte ihn immer mehr, was die anderen Menschen von ihm zu erwarten schienen. Aha, er sollte nun also ein Mann werden. Männer haben keine Gefühle. Männer sind physisch stark. Männer zeigen ihre Liebe und Sensibilität nicht. Wie sollte er da noch er selbst sein können? Es trieb ihn um, er wurde immer verzweifelter.

Aber es gibt doch Menschen, die mehr so sind wie er - die Menschen, die man Frauen nennt. Sie sind sensibel. Sie dürfen ihre Liebe zeigen. Ist es nicht so? Ja, natürlich, diese Menschen, die sind so wie ich, dachte er sich. Also mußte er wohl einer von denen sein. Immer überzeugter war er davon. Ganz und gar hatte er vergessen, wer er war. El-Malayne? Er spottete nur darüber und war sich gewiß: "Ich bin eine Frau".

Machtvoll sind die Gedanken auch auf dieser Welt, und so wurde aus dieser Überzeugung bald physische Realität. Nun lebte er das Leben einer Frau. Doch der Hunger, die Suche wollten nicht aufhören, das war noch nicht genug. Noch immer fühlte er sich fremd hier und begann, weiter Ausschau zu halten. Hatte er nicht immer gelernt, daß diese Welt die einzig wahre sei? Er traf Menschen, die erzählten ihm von fremden Planeten und er lachte bloß. Doch er wurde stiller in sich, lernte, mehr in sich selbst hineinzuhorchen und dem, was in ihm war, zu vertrauen. Langsam, langsam, sickerte das Licht und die Liebe der Ebenen durch, von denen er kam, bis er sich ihrer auch in seinem Erdenkörper bewußt wurde.

El-Malayne erwachte aus dem Taumel, in dem ihn die Dichte der Erdenwelt geworfen hatte. Die Verletzungen, die er durch sie erfahren hatte, begannen zu heilen und immer mehr kehrte in ihm die Erinnerung an das, wer er wirklich ist, zurück.

Nun versuchte El-Malayne nicht mehr, sein Leben nach den Erwartungen von Menschen um ihn herum zu führen. Er traf andere Menschen, die wie er waren und ihn an sein Zuhause erinnerten, mit denen er wieder ganz die Liebe seiner Seele teilen konnte. Das war so heilend und befreiend, daß er immer mehr den Mut hatte, den Menschen davon zu berichten, wer er war und sie bei ihrem Wachstum auf diesem wunderschönen Planeten zu begleiten.

Und die Menschen spürten, daß El-Malayne anders war als sie selbst, und sie verspotteten und verletzten ihn nicht mehr dafür, sondern sie fragten ihn um Rat und er durfte auch sie daran erinnern, daß sie Seelen sind, viel mehr als ihre begrenzten Körper, die sie für ihren Besuch auf Gaia angelegt hatten.

 

Chris

Zu meinen Geschichten

Für meine Coming-Out-Phase spielte der Darkover-Freundeskreis eine derartig wichtige Rolle, daß ich hier einige der damals entstandenen Geschichten abdrucken möchte. Dazu die folgenden Erläuterungen:

Das von der amerikanischen Autorin Marion Zimmer-Bradley in ihren Romanen beschriebene Darkover ist ein ziemlich kühler Planet mit einer roten Sonne. Die menschlichen Bewohner sind Nachfahren von Siedlern, die einst, auf der Reise zu irgendeiner Kolonie-Welt, hier notlanden mußten. Deren Nachkommen bildeten eine mittelalterliche feudale Kultur und vergaßen ihre Herkunft, und allmählich traten Götter-Mythen und Legenden an die Stelle historischer Überlieferungen.

Eine alte, seit Urzeiten auf diesem Planeten heimische Rasse humanoider, zwittriger Intelligenz-Wesen - die mit außergewöhnlich starken Psi-Fähigkeiten begabten Chieri - waren mit einigen Menschen in Kontakt getreten, und aus so mancher dieser Verbindungen gingen Kinder hervor, die meist ebenfalls Psi-begabt waren. Aus ihnen bildete sich die spätere Adels-Kaste, die Comyn. Allerdings werden unter ihnen auch bis "heute" gelegentlich Kinder geboren, die aufgrund des Chieri-Erbes "emmasca" (d. h. zwitterhaft) sind.

Die Psi-Kräfte, "Laran" genannt, können mittels spezieller Kristalle, der blauen "Matrix"-Kristalle, im Volksmund als "Sternen-Steine" bezeichnet, auf ein Mehrfaches verstärkt werden. Und so werden telepathische Nachrichten-Übertragung, telekinetische Gewinnung von Bodenschätzen, medizinische Diagnosen und Heilungen und vieles andere ermöglicht. Dies geschieht fast ausschließlich in besonderen Türmen, in denen die Leron'yn (beruflich mit Laran arbeitende Personen) leben und wirken. In diesen Türmen werden auch die Laran-begabten Jugendlichen im Gebrauch ihrer Fähigkeiten und der Matrix-Kristalle ausgebildet.

Aufgrund der furchtbaren Erfahrungen in Kriegen der Vergangenheit verbietet eine Konvention den Einsatz von Laran und aller Arten von Schuß-Waffen.

Etwa 2000 Jahre nach der Besiedlung wurde Darkover wiederentdeckt. Aber die Bevölkerung hat an Kontakten mit den "Terranan" nur wenig Interesse. Doch wird die Errichtung eines Raumhafens erlaubt und auch einige Handelszonen werden geduldet.

Einst hatten wehrhafte Frauen (teils auch mit Waffengewalt) das Recht auf eine eigene Organisation erkämpft, die Gilde der Entsagenden (Comhi-Letzii), die jeder Frau Zuflucht bietet, die sich von männlicher Herrschaft losgesagt hat ("entsagt") - allerdings nicht unbedingt vom Umgang oder Liebes-Beziehungen mit Männern - und die auch bereit ist, auf alle familiären Bindungen zu verzichten. Die Gilde der Entsagenden (auch Amazonen genannt) hat in den meisten größeren Orten Gildenhäuser eingerichtet (ähnlich den Frauenhäusern unserer Zeit), die den Bewohnerinnen als Heimstätten und Ausbildungs-Zentren für Handwerks- und andere Berufe dienen.

Über eine Darkoverfan-Zeitung lernte ich "Kieran" kennen, der mich ermutigte, auch Geschichten über Darkover zu schreiben. Er wählte sich die Rolle eines Bewahrers im Turm von Neskaya, ich die Rolle einer Amazone von Thendara. So standen wir von 1987 bis 1993 in Kontakt, bis "Kieran" nach seiner Operation von Frau zu Mann wegzog und sich nicht mehr meldete, was mich ziemlich traurig machte. Hier ist nun die Geschichte von meiner "Kindheit auf Darkover" und die Geschichten von mir als Kris n'ha Camilla und von K. als Kieran di Neskaya.

HC, im Mai 1994

 

Meine Kindheit auf Darkover

In dieser Geschichte wird die Kindheit einer zwitterhaften Amazone auf dem Planeten Darkover erzählt. Die Geschichte entstand 1987, in dem Jahr, als ich den Antrag auf Namensänderung nach dem Transsexuellengesetz stellte.

Kris n'ha Camilla erzählt:

Nachdem ich im Darkovanisch-Terranischen Freundschaftsverein mehrmals gebeten wurde, doch einmal meine Kindheit aufzuschreiben, habe ich in meinen alten "Schulsachen" nach Aufsätzen gewühlt und vier davon ausgesucht, die ich hier weitgehend unverändert wiedergebe.

Mein Geburtsdatum und -Ort ist unbekannt. Als etwa 6-jähriges Kind wurde ich von den Chieri an Camilla n'ha Kyria übergeben. Sie sagten, ich sei die einzige Überlebende eines abgestürzten Raumschiffes von Terra. Ich selbst habe keinerlei konkrete Erinnerungen, selbst die Sprache fehlte mir. Vermutlich hatte ich eine Gehirnverletzung oder einen schweren Schock bei diesem Unfall bekommen.

Margali ließ mich im terranischen Hauptquartier in Thendara untersuchen, wo sie feststellten, daß ich zwar einige terranische Pflanzen wie Sonnenblumen und Primeln kannte, die es auf Darkover nicht gibt, aber andererseits waren mir keinerlei terranische Geräte bekannt (nicht einmal die Automatik-Toiletten!).

Es war ausgeschlossen, daß ich mit einem terranischen Raumschiff gekommen war, denn in den letzten 100 Jahren seit der Wiederentdeckung Darkovers gab es hier keine registrierten Raumschiffabstürze, und mein Gen-Code ergab, daß ich von keiner Raumschiffbesatzung abstammen kann, die in den letzten 1000 Jahren Terra verließ. Dagegen habe ich einige Chieri-Gene, wie sie auch beim darkovanischen Adel vorkommen. Ich müsse also ein Mensch-Chieri-Mischling sein, wie sie gelegentlich von den Chieri bei den Menschen "abgeliefert" werden.

Margali und Camilla zogen mich dann im Gildenhaus Thendara auf, wo ich recht mühsam (wieder?) sprechen lernte. Dies ist im 1. Aufsatz geschildert.

Camilla nahm mich als Kind öfters auf ihren Reisen mit, bei denen ich mir die Wege und die Orte einprägte, was mir jetzt von Nutzen ist, wenn ich eine Reisegruppe führe oder begleite. Eine der ersten dieser Reisen beschrieb ich im 2. Aufsatz.

Daß ich emmasca bin, war von Anfang an bekannt, aber als mir Camilla andeutete, daß ich möglicherweise ins Männliche schlagen könnte, war ich doch überrascht. Vorsorglich wurde ich in die Klosterschule zu den Cristoforo-Mönchen nach Nevarsin geschickt, um die Männerrolle zu lernen. In Nevarsin kam ich als Junge sehr gut zurecht. Während der Neujahrsferien schlug ich nach einem Laran-Test jedoch eindeutig ins Weibliche.

Die Zeit in Nevarsin und den Larantest schilderte ich im 3. Aufsatz. Allerdings sagte mir Cyril bei Gelegenheit, daß bei meinem Laran-Test keine Fünfer-Matrix verwendet worden sei, wie ich es in Erinnerung hatte. Ein solcher Test außerhalb eines Turmes mit einer Fünfer-Matrix sei heller Wahnsinn!

Im 4. Aufsatz beschrieb ich, wenn auch etwas knapp, meine Zeit der Ausbildung im Turm von Tramontana. Ich ergänzte einige Sätze, denn über eine Verliebtheit konnte ich damals mit 14 Jahren noch nicht offen reden - und erst recht nicht in einem Aufsatz schreiben.

Im Nachwort, daß ich während der Probezeit im Gildenhaus schrieb, ergänzte ich eine Zeichnung, die mir Anne vom Kothen schenkte. Allerdings ließ ich sie mir von meiner Gildenmutter etwas retuschieren. Anne vom Kothen besuchte früher öfters das Gildenhaus. Sie hatte auch viele andere Zeichnungen von Darkover gemalt, bevor sie nach Terra zurückkehrte.

An den Tag, an dem ich den Eid als Entsagende ablegte, habe ich nur blasse Erinnerungen, außer, daß sich die alte Mira einen Arm brach, als sie beim Festessen vom Stuhl fiel.

Den Eid legte ich nur schweren Herzens ab, denn wie viele junge Mädchen träumte ich von ewiger Liebe (Treue sowieso) und Heirat "di Catenas". Letzteres läßt ja der Eid nicht zu. Mal träumte ich von einem Mann wie Schwarzbart und vielen Kindern sowie einem Häuschen mit Garten, mal von einer lesbischen Freundin mit Kindern, für die ich als Reiseleiterin oder Schreiberin (ein lukrativer Job in Thendara) den Lebensunterhalt verdiene. Daß ich jetzt mit über 30 Jahren noch Single sein würde, hätte ich mir damals selbst in den schlimmsten Alpträumen nicht träumen lassen.

Mit dem Ablegen des Eides wurde ich endgültig volljährig. Es war Frühling und ich durfte (mit anderen Gildenschwestern) Reisenden und Handelskarawanen als Eskorte dienen. Und ich war glücklich, nach dem halben Jahr Probezeit wieder in der freien Natur sein zu können.

1. Kapitel: Selbstdarstellung des Kindes

Ich bin Kris, das Pflegekind von Camilla. Wir leben im Gildenhaus von Thendara. Wir sind hier mehrere Kinder, und oft kommen noch Kinder aus der Nachbarschaft, um mit uns zu spielen. Manchmal ärgern sie mich und rufen mich "Kris-Emmasca". Ich bin immer sehr wütend darüber, aber Margali, Camillas Freundin, sagte mir, daß ich stolz darauf sein solle, weil es ein Zeichen für Chieri-Abkunft sei wie bei den Hasturs. Ich verstehe nicht, wie das möglich ist, da ich von Terra stamme.

Als ich nach Darkover kam, hatten wir einen schrecklichen Unfall. Die Chieri retteten mich, aber die anderen kamen alle um. Ich war schwer verletzt, aber die Chieri stellten mich wieder her. Ich konnte weder sprechen noch menschliche Sprache verstehen, weil ein Teil meines Gehirns zerstört worden war. Aber die Chieri merkten, daß ich Laran hatte und brachten mir bei, wie ich es gebrauchen kann. Und so kann ich Gedanken lesen und komme damit ganz gut zurecht. Ich kann mich weder an den Unfall selbst erinnern noch an das, was vor dem Unfall war. Ich weiß nicht einmal mein Alter. Vielleicht bin ich so 8 bis 9 Jahre alt. Ich habe auch fast keinerlei Erinnerungen an Terra.

Als ich wiederhergestellt war, brachten mich die Chieri zur Menschheit zurück und übergaben mich der Geheimen Schwesternschaft, die abseits von dem Gebiet der Menschen in den Bergen wohnt. Als wir in die große Halle kamen, trafen wir dort einige Frauen, die am Kamin saßen oder standen. Eine von ihnen sagte oder dachte deutlich:

"Warum haben die dieses Kind wieder zusammengeflickt. Es ist taub und stumm. Wir würden uns nicht so stark ins Schicksal / in die Natur / einmischen ..."

Im Hintergrund dachte jemand warm und freundlich über mich. Ich ging zu ihr hin. Es war Camilla. Sie war viel größer als ich. Sie merkte, daß ich ihre Gedanken verstand und sagte ohne Worte in etwa folgendes zu mir:

"Keine Angst, Kleines, du kannst bei mir bleiben, wenn du willst. Ich hatte nie Kinder gehabt, du kannst mein Pflegekind werden."

Eine andere Frau, Margali, sah mich kritisch an. Bevor sie merkte, daß ich Gedanken lesen konnte, dachte sie sehr offen und deutlich:

"Dieses Kind wird Camilla guttun. Aber dann wird sie weniger Liebe / Zeit / Zärtlichkeit für mich übrig haben."

So blieb ich bei Camilla und Margali. Einige Tage später kehrten sie von der Geheimen Schwesternschaft zurück nach Thendara, der Hauptstadt, und nahmen mich mit ins Gildenhaus zu den Entsagenden. Margali brachte mich am nächsten Tag in das Terranische Hauptquartier beim Raumhafen, um festzustellen, ob mich die Terraner kennen. Aber die Computer der Terraner kannten mich nicht. Sie wußten auch nichts von einem Raumschiffabsturz, und ich konnte mit keinem der seltsamen Geräte der Terraner etwas anfangen. Ich erkannte lediglich einige terranische Pflanzen, von denen sie mir Bilder zeigten, und die auf Darkover unbekannt sind.

Also blieb ich bei Camilla und Margali im Gildenhaus. Margali und ich waren am Anfang etwas eifersüchtig aufeinander. Ich denke, daß das vielleicht mit ein Grund war, daß sie sehr schnell einen Laran-begabten Sprachlehrer für mich organisierte, der mir das Sprechen beibrachte. So hatte Camilla Zeit für Margali, während ich Unterricht hatte. Und bald konnte ich mich auch mit den anderen im Gildenhaus unterhalten, die kein Laran hatten, um meine Gedanken zu verstehen.

Inzwischen kann ich schon recht gut verständlich sprechen. Aber meinen Lehrer nenne ich "Schwarzbart", weil ich seinen eigentlichen Namen immer noch nicht richtig aussprechen kann. Er ist auch nur schwer zu merken, weil er keine bildliche Bedeutung hat wie zum Beispiel die Namen "Camilla" und "Margali", die mich an Blumen erinnern. Es ist eigentlich lustig, daß Camilla und Margali enge Freundinnen sind, und die Kamille und die Margerite Blumen mit ähnlichen Blüten sind!

Ich lebe hier im Gildenhaus als Mädchen, aber Camilla sagt, daß man noch nicht sagen könne, ob ich eine Frau oder ein Mann sein werde, wenn ich erwachsen bin. Aber das ist ein Geheimnis, das die anderen nicht wissen sollen.

Schwarzbart würde einen netten Ehemann abgeben, denke ich. Letzte Woche brachte er mir Schokolade von der Terranischen Handelsstadt mit und versprach mir mehr davon, sobald ich das Wort dafür richtig aussprechen kann. Ich kann mir aber auch gut vorstellen, mit einem der Mädchen zusammenzuleben, mit denen ich hier spiele.

Am Anfang war es ja sehr schwer, mich ihnen verständlich zu machen, weil sie meine Gedanken nicht verstanden, und ich noch nicht sprechen konnte. Aber jetzt sind wir gute Freunde.

Vielleicht bleibe ich für immer bei der Schwesternschaft im Gildenhaus, wenn ich erwachsen bin.

2. Kapitel: Reise nach Dalereuth

Im Sommer nahm mich Camilla einmal auf eine Reise in den Süden von Darkover mit. Hier will ich einen Tag davon schildern, an dem ich besonders viel erlebte.

Wir waren erst sehr spät am Abend in Dalereuth angekommen und schliefen am nächsten Morgen erst einmal lange aus. Als ich aufwachte, war Camilla schon seit einer Weile aufgestanden, aber sie kam sofort ins Zimmer der Herberge zurück, bevor ich ganz wach war und sie vermissen konnte. Dann frühstückten wir zusammen im Gastraum. Die anderen Gäste waren alle schon weg, aber die Wirtin wärmte uns noch einmal Essen auf.

Camilla erklärte mir, daß sie noch einige Dinge zu erledigen habe, wo ich nicht dabei sein könne. Nicht etwa, weil ich noch zu klein sei, wie sie auf meinen protestierenden Blick erwiderte, sondern weil es geheime Dinge seien - wohl wegen der Geheimen Schwesternschaft, wie ich annehme. Und davon war selbst ich als Camillas Pflegekind ausgeschlossen. Ich sollte deshalb einige Tage bei einem ihrer ehemaligen Kameraden aus ihrer Söldnerzeit und dessen Familie bleiben. Sie würde mich in einigen Tagen auch selbst wieder von dort abholen.

Später, als wir gerade unsere Sachen gepackt hatten, kam ein Mann in die Herberge.

"Das ist der Müller, der wird dich hinbringen." sagte Camilla zu mir.

"Ich habe alles mit ihm abgesprochen."

Sie drückte dem Müller eine Münze in die Hand und umarmte mich kurz zum Abschied.

Der Müller hatte vor der Herberge einen Pferdewagen voller Säcke stehen und forderte mich mit einer Handbewegung auf daraufzuklettern. Dann setzte er sich vorne auf den Wagen und los ging die Fahrt. Camilla, die mit auf die Straße gekommen war, winkte mir hinterher.

Dies war meine erste Fahrt auf einem Pferdewagen. Auf dem felsigen Untergrund war es sehr holprig, und ich hatte große Angst dabei - aber den Müller vorne ließ das kalt. Unterwegs nahm er noch einige Marktfrauen mit, die mit ihren Körben auf dem Heimweg waren. Die Gegend war etwas hügelig und felsig. Zwischen den Felsen gab es viele schöne Blumen, die ich noch nicht kannte. Vor einem Holzhaus mit einem großen Garten hielt der Müller an und pfiff laut. Dann ließ er mich absteigen und fuhr gleich weiter.

Eine Frau im mittleren Alter kam aus dem hinteren Teil des Gartens und führte mich ins Haus.

"Du bist Kris, nicht wahr? Ich heiße ..."

Ihren Namen konnte ich nicht verstehen, er war so fremdartig. Sie wiederholte ihn auch nicht, als ich ihn nicht verstand. Die Räume im Haus hatten ziemlich große Fenster, die mit jalousieartigen Läden verschlossen waren. Durch die Schlitze kam aber noch genügend Licht herein. Es war warm und luftig im Haus.

Als ich meinen Rucksack abgestellt und den Mantel und die Stiefel ausgezogen hatte, sagte die Frau:

"Wir haben hier im Augenblick leider viel Arbeit!" und nahm mich mit in den Garten.

Dort war in einem Teich eine Wasserpflanze zu ernten. Die Stengel waren so dick wie Spargel und wurden mit einem Messer abgeschnitten. Das Wasser etwas über knöcheltief. Ich zögerte, barfuß, wie ich war, ins Wasser zu gehen. Die Frau forderte mich auf, so wie sie hineinzugehen. Es sei völlig ungefährlich.

Ich stieg endlich auch in den Teich und half ihr, die Stengel abzuschneiden. Dabei fand ich einige Stiefel im Wasser und fragte die Frau danach. Sie gab keine Antwort. Ich fragte nochmals:

"Gibt es hier vielleicht spielende Kleinkinder, die alles mögliche ins Wasser werfen wie diese Schuhe?"

Die Frau schwieg mürrisch. Ich fragte mich daraufhin, ob ich sie mit dieser Frage vielleicht verletzt habe, weil ich damit einen wunden Punkt bei ihr berührt habe. Im Geiste sah ich schon ertrunkene Kinder im Teich liegen.

Der Gedanke, daß sie meine Sprache nicht verstand, kam mir einfach nicht. Daß jemand eine andere Sprache spricht als wir Zuhause in Thendara und mich deshalb nicht verstehen kann, wurde mir erst am nächsten Tag klar. Ich selbst verstand ja alles aufgrund meines Larans - unabhängig von der Sprache.

Aus dem Haus kam ein kleiner Junge und klagte, daß die Kuchen nicht schmeckten. Ob sie schon zu lange im Ofen sind? Ich ging mit ihm ins Haus. Spielerisch trug ich das Messer, mit dem ich das Wassergemüse abgeschnitten hatte, wie eine Waffe in der Hand. Das Messer war viel größer als ein normales Eßbesteck und hatte einen dunklen Holzgriff. Natürlich war mir klar, daß so etwas kindisch ist, und Gefahr bestand ja auch keine. Aber es machte mir halt Spaß.

Auf dem Weg ins Haus kam mir ein Mann in brauner Lederkleidung entgegen und reichte mir die Hand zur Begrüßung. Ich streckte ihm die Hand entgegen, aber es war die falsche. Also nahm ich das Messer in die andere Hand und reichte ihm die richtige. Er hatte unterdessen aber auch die Hand gewechselt, und wieder war der Handschlag unmöglich. Der Mann fragte mich dann, ob ich Linkshänder sei, und fügte nach kurzer Zeit, während ich noch über seine Frage nachdachte, hinzu, daß man das im Zweifel daran erkennen könnte, ob das ... im rechten oder im linken Hosenbein hänge, und er versuchte, meine Hose abzutasten. Ich lächelte verlegen und wich ihm aus.

"Oder bist du etwa ein Mädchen?" fragte er daraufhin spöttisch.

Ich hatte keine Lust, meine Identität preiszugeben und lief ins Haus. An seiner Hose war eindeutig zu erkennen, daß er sich für mich interessierte - und daß er seiner Theorie nach Linkshänder war.

Im Haus zeigte mir der kleine Junge die Küche. Ich öffnete die Backofentür und probierte vom Kuchen. Es waren kleine Törtchen aus Biskuit. Das Rezept kannte ich: 1 Ei, 1 Tasse Mehl, 1 Tasse Honig (oder 3/4 Tasse Zucker) und etwas Wasser. Der Belag bestand aus roten Beeren, die wie Apfel mit Holunder schmeckten. Ich sagte zu dem Jungen:

"Die Kuchen sind gut so, besser können sie nicht werden, auch wenn sie bis morgen im Ofen bleiben." und holte die Törtchen aus dem Ofen.

"Du kannst dir höchstens noch Zucker draufstreuen, wenn sie dir zu sauer sind. Mir schmecken sie jedenfalls!" fügte ich hinzu.

In diesem Augenblick kam die Frau aus dem Garten herein mit dem Gemüse im Korb. Sie fuhr den Jungen böse an, daß er vom Kuchen genascht hätte, und rief wütend nach einer jungen Frau, die daraufhin aus einem anderen Raum herbeieilte, und fragte sie, warum sie nicht auf das Essen achtgebe.

Dann sagte die Frau - wieder ganz freundlich - zu mir:

"Jetzt zeige ich dir mal, wie man dieses Gemüse zubereitet." (Es wird wie Schwarzwurzeln gekocht.)

Und so machten wir uns an die Arbeit. Ich fing beim Schälen an zu singen, und zum ersten Mal reagierte die Frau auf mich, indem sie die Melodie nach der zweiten Strophe mitsummte.

Als nun das Essen im Kessel aufgekocht hatte und nur noch eine Weile ziehen mußte, nahm die Frau mich mit in einen Schlafraum und gab mir ein Kleid zum Anziehen. Ich protestierte:

"Aber ich trage immer nur Hosen!"

Sie hörte mich nicht und fuhr fort:

"Nun mach' schon, wir essen gleich!"

Ich zögerte weiter. Sie merkte es endlich und meinte dann:

"Ich weiß ja, du wächst unter Amazonen auf," (es wirkte abschätzig wie "Mannweiber") "aber hier gibt es auch Männer, da mußt du dich den hiesigen Sitten anpassen!"

Bei dem Wort "Männer" klang ihre Stimme sehr verächtlich, und ich sah den Mann von vorhin vor meinem geistigen Auge. Ich verstand nun, und bevor ich mich von ihm abtasten ließ wie ein Tier auf dem Markt, zog ich lieber so ein merkwürdiges Kleidungsstück an, wie ich es nur bei großen Festen zum Tanzen trage.

Inzwischen hatte die junge Frau den Tisch gedeckt, und wir gingen zum Essen runter. Es kamen auch eine Reihe Kinder und ein paar Erwachsene, die ich noch nicht gesehen hatte, dazu.

Die Frau stellte mich vor:

"Das ist Kris, die Pflegetochter von Camilla."

Der Mann mit der Lederkleidung war ganz verdattert, als er mich im Kleid und derart vorgestellt sah. Beim Anblick seines verdutzten Gesichts mußte ich lachen und hätte dabei fast noch den Stuhl umgerissen, auf den ich mich gerade setzen wollte. Beim Essen hätte ich mich dann ein paarmal vor Lachen fast verschluckt, als ich ihn ansah, was ich dann aber lieber vermied. Nun ja - so ein lustiges Erlebnis ist vielleicht das Kleidertragen wert gewesen.

Beim Essen wurde ich dann sehr müde, und während sich die anderen beim Nachtisch noch unterhielten, brachte man mich in ein Schlafzimmer und zeigte mir, in welchem Bett ich schlafen sollte.

Beim Einschlafen dachte ich noch mal an das verdutzte Gesicht von dem Mann, und so schlief ich lächelnd ein.

3. Kapitel: Ein Winter in Nevarsin

Die Zeit als Kind in Thendara im Gildenhaus war eine sehr schöne Zeit. Ich lernte schließlich ganz gut sprechen und begann, auch Casta zu lernen.

Einige der Mädchen, mit denen ich in der Freizeit spielte, fingen an, Brust zu bekommen, während sich bei mir noch nicht die geringsten Anzeichen bemerkbar machten, obwohl ich bereits größer als die meisten anderen war und auch schon anfing, mich zu verlieben wie die anderen.

Da nahm mich eines Tages Camilla beiseite. Sie war sehr verlegen und ich ahnte sofort, daß sie eine schreckliche Nachricht für mich hatte:

"Du bist ja emmasca. Es kann sein, daß du - äh - ins Männliche umschlägst. Wir müssen dich auch auf so etwas vorbereiten und haben gemeinsam beschlossen, dich für einige Zeit als Junge nach Nevarsin in die Klosterschule zu schicken. Noch bist du im passenden Alter dafür. Danach kannst du ins Gildenhaus zurückkehren, wenn du dich mehr weiblich als männlich fühlst."

Und so wurde ich als Junge einer Reisegruppe nach Nevarsin mitgegeben. Es waren mehrere Jungen dabei, die in die Klosterschule sollten, aber glücklicherweise niemand, der mich kannte.

Camilla umarmte mich zum Abschied, und wir beide weinten dabei sehr. Dann nahm mich einer der Männer mit auf sein Pferd, und los ging es in Richtung Norden. Ziemlich schnell ließen wir die Stadt hinter uns. Auf der Bergkuppe schaute ich ein letztes Mal zurück nach Thendara. Ich war sehr traurig. Wann ich wohl zurückkommen könnte?

Es war später Herbst, und wir mußten uns beeilen, um vor dem Winter anzukommen. Die ersten Nächte übernachteten wir in Herbergen, aber einmal mußten wir auch im Freien übernachten: Wir ritten bis in die Dunkelheit hinein. Es war kalt und feucht. Schließlich meinte der Führer der Reisegruppe, es habe keinen Sinn mehr, weiterzureiten, bis wir eine Herberge finden, und wir hielten an. Vor Kälte steif stiegen wir ab. An einer geschützten Stelle wurde Reisig angehäuft und von einem der Männer mit Zunder und zwei Feuersteinen in Brand gesetzt. Die Stelle wurde natürlich so gewählt, daß der Wald nicht in Brand geraten konnte. Als die Suppe kochte, bekam jeder einen Becher voll davon, dann legten wir uns in kleinen Zelten jeweils zu mehreren schlafen. Die Männer wurden in Wachen eingeteilt, wir "Jungen" durften durchschlafen.

Als wir am Morgen aufstanden, sahen wir in unmittelbarer Nähe ein Haus, das wir in der Dunkelheit am Abend nicht gefunden hatten. Eine ältere Frau erschien in der Tür, drohte mit einem Messer und rief, daß bei ihr keiner lebend eindringen würde. Wir beruhigten sie, daß wir keine Räuber seien, sondern nur Reisende, die die Herberge nicht gefunden hätten.

Während die Männer Feuer fürs Frühstück machten, sammelten wir Jungen ein paar Nüsse auf. In diesem Jahr gab es besonders viele. Nach dem Frühstück ritten wir weiter und erreichten am späten Nachmittag Nevarsin.

Über das Leben bei den Cristoforo in der Klosterschule erzähle ich ein anderes Mal. Hier nur das Folgende: In Nevarsin hätte ich mich ein paarmal fast verplappert, weil ich für mich noch manchmal weibliche Wortwendungen gebrauchte. Aber da ich sowieso noch nicht so gut den Dialekt von Nevarsin sprechen konnte, sagten sie nur:

"Du hattest wohl eine Frau als Lehrer für Fremdsprachen?!"

Ansonsten kam ich mit dem Leben als Junge gut zurecht. Ich war zwar nicht so kräftig wie die anderen, aber die Mönche bestanden auf friedliche Spiele. Und als mich mal doch jemand angriff, verschaffte ich mir mit der Selbstverteidigungstechnik, die ich von Margali gelernt hatte, schnell Respekt.

Außer mir gab es in Nevarsin im Augenblick keine Emmasca'in. Aber die Mönche waren so etwas gewohnt, und ich mußte meine Identität vor den Lehrern (Mönchen) nicht verstecken.

Die erste Zeit in Nevarsin fror ich schrecklich. Ich lernte aber relativ schnell, damit zurechtzukommen und war der erste des Schuljahrgangs, der barfuß im Schnee laufen konnte. Ich freundete mich mit einem der Mitschüler an, Toma. Zum Mittwinterfest lud er mich zu sich nach Hause ein. Seine Eltern hatten in der Nähe ihre Burg.

Am Morgen des Festtages brachen wir früh auf und erreichten am Nachmittag die Burg von Tomas Eltern. Ich bekam ein Gästezimmer zugewiesen, das ein eigenes Bad hatte. Ich genoß ausgiebig das warme Wasser, das ich in Nevarsin doch ziemlich vermißt hatte. Während ich noch im warmen Wasser unter einer dicken Schicht Badeschaum lag, kam Toma herein und fragte, ob ich seine Tiere sehen wolle. Unwillig, aber höflich sagte ich ja, und Toma verließ das Bad. Ich war froh, daß er als Cristoforo das Bad verließ, bevor ich aus der Wanne stieg und mich anzog. Daß ich emmasca bin, brauchte er nicht zu wissen.

Ich folgte Toma in die Ställe. Es gab viele verschiedene Tiere dort. Toma kannte jedes Tier mit Namen. Zum Schluß kamen wir zu den Pferden. Eines der Pferde hatte Toma selbst zugeritten, und es erkannte ihn wiehernd. Toma versprach mir, in den Sommerferien mit mir in die umliegenden Berge auszureiten.

Plötzlich rief uns ein Mann:

"Wo seid ihr bloß!? Wir warten mit dem Essen auf euch!"

Toma und ich hatten gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging. Wir rannten sofort in den Festsaal, ich hinter Toma her. Es saßen alle schon am Tisch, nur wir beide fehlten noch.

Das Festessen war wie Zuhause in Thendara. Gedankenverloren dachte ich an das Gildenhaus und an Camilla. Die saßen dort bestimmt alle auch am Festessenstisch. Zum ersten Mal seit den ersten Wochen in Nevarsin spürte ich wieder starkes Heimweh. Fast hätte ich geweint. Toma stellte mir die Leute vor, die in unserer Nähe saßen. Schräg gegenüber von uns saßen Tomas Eltern, die Gastgeber. Obwohl sie sich angeregt unterhielten, wirkten sie auf mich irgendwie gereizt oder bedrückt. Ich fragte Toma danach. Er sagte, er merke nichts, aber bestimmt werde er von seinen Eltern eine Standpauke bekommen, weil er mit mir unpünktlich und verdreckt zum Festmahl erschienen ist. Ich schaute an mir runter - der Stall hatte tatsächlich seine Spuren an unserer Kleidung hinterlassen.

Da sprach mich eine ältere Frau an, die Toma mir als Tante Bea vorgestellt hatte und links neben uns am Tisch saß:

"Bist du schon 'mal auf Laran getestet worden, Kris? Du scheinst als einziger von den Jugendlichen hier die gereizte Stimmung von Tomas Eltern zu spüren. Offenbar hast du etwas Laran."

Ich lachte:

"Ich habe sogar etwas mehr als nur 'etwas Laran'! Immerhin kann ich überhaupt nur durch Gedankenlesen verstehen, was die anderen zu mir sagen."

Darauf erklärte Bea:

"Ich bin Matrix-Technikerin und möchte gerne dein Laran testen. Ich habe das Gefühl, daß das sehr dringend 'mal gemacht werden müßte. Am besten erledigen wir das gleich nach dem Essen. Wir können danach immer noch lange genug tanzen."

Der Name Bea war natürlich nur ein Kosename, wie die Familie die Tante nannte, aber ich durfte sie auch so nennen.

Nachdem wir mit dem reichlichen Festessen fertig waren, nahm Bea mich und zwei Männer, Matrix-Mechaniker, die sie als ihre Freunde vom Turm zum Mittwinterfest mitgebracht hatte, mit ins Obergeschoß in einen länglichen Raum. Rechts auf der längeren Seite war ein Fenster, in der Mitte ein kleiner Tisch. Bea zog aus dem Halsausschnitt ihres Kleides einen Lederbeutel heraus und entnahm diesem einen blauen Kristall, einen Sternenstein.

Während sie ihn in der Hand hielt und konzentriert daraufschaute, wirkte dieser Kristall auf mich doch etwas unheimlich, und ich wandte mich ab. Mir kam es vor, als würde der Raum von flackerndem hellblauem Licht erhellt, und gleichzeitig war mir so, als ob es nicht so wäre.

"Spürst du etwas?" fragte Bea, und ich beschrieb dieses Licht.

"Du hast offenbar starkes Laran, aber mir ist da noch etwas nicht ganz klar. Ich will noch einen weiteren Test machen." erklärte sie und holte aus einem Nebenraum einen Leuchter und einige andere Gegenstände, die ich nicht kannte.

Einer der beiden Männer sagte oder dachte gut vernehmbar:

"Eine Fünfer-Matrix!"

Mir war dabei ziemlich mulmig zumute.

Als Bea mit dem jüngeren der beiden Männer daran hantierte, erschien wieder dieses blaue Licht, diesmal noch intensiver als vorhin bei der anderen Matrix.

Ich bekam noch mehr Angst und lehnte mich schutzsuchend an die Brust des älteren Mannes, der gerade neben mir stand. Wie ich später erfuhr, hieß er Cyril und war der Bruder des anderen Matrix-Mechanikers. Cyril hatte einen dunklen Bart wie "Schwarzbart", mein Sprachlehrer in Thendara, für den ich immer sehr geschwärmt hatte.

"Wenn das so weitergeht, bekomme ich wieder diese schrecklichen Kopfschmerzen!" rief ich entsetzt aus.

Bea und der jüngere Matrix-Mechaniker brachen das Experiment ab. Ich atmete auf.

Bea dachte eine Weile nach, dann winkte sie uns an den Tisch. Cyril, der bisher abseits gestanden hatte, setzte sich jetzt auf einen Stuhl zu den anderen beiden. Ich war meiner "Lehne" beraubt und setzte mich auch dazu. Bea erklärte mir:

"Wir bilden jetzt einen Matrix-Kreis. Ich denke, du hast genug Laran, um daran teilzunehmen. Keine Angst, wir machen das sehr vorsichtig!"

Das war das erste Mal, daß ich bei so etwas dabei war. Bea berührte die Matrix und streckte ihre Gedanken nach mir aus. Dabei verlor ich die Besinnung.

Als ich wieder zu mir kam, war es Tag. Schwach kam das Licht durch die Vorhänge herein. Ich hatte starke Schmerzen im Kopf und im Unterleib. Eine Frau, die neben meinem Bett saß, sagte etwas. Ich verstand nichts, aber das Geräusch löste eine neue Kopfschmerzwelle aus. Da kam Bea herein. Sie berührte kurz meinen Kopf, und die Kopfschmerzen ließen nach. Anschließend tastete sie mich mit ihrer Matrix von Kopf bis Fuß ab, ohne mich zu berühren, und sagte schließlich:

"Kris, du hast die Schwellenkrankheit. Wir müssen dich zur Ausbildung in einen Turm schicken. Ich weiß, du hast zwar schon etwas Laran-Ausbildung, aber das reicht jetzt nicht mehr aus."

Dann fuhr sie nach einer Pause etwas ernster fort:

"Übrigens, du wirst in den nächsten Tagen erwachsen werden."

Ich merkte, daß sie dabei ganz verlegen war, so wie Camilla, als sie mich nach Nevarsin in die Klosterschule schickte. Bea sagte schließlich weiter:

"Du wirst nicht mehr ins Männerkloster zurückkehren können. Du bist zwar emmasca, aber was auf dich in den nächsten Tagen zukommen wird, ist genau das, was nur Frauen haben - verstehst du, was ich meine?"

Ich verstand und lächelte schwach. Mir kam der Gedanke, daß wir Klosterschüler bei solchen Dingen immer so taten, als verstünden wir nichts, um den Lehrer zu zwingen, peinliche Fragen ganz ausführlich zu erklären.

Bea holte dann einen Teller Suppe und überredete mich, davon zu essen. Als ich einige Löffel gegessen hatte, schlief ich wieder ein. Erst einige Zeit später wurde mir überhaupt klar, was das von Bea Gesagte für mich für Konsequenzen hatte: Ich konnte ins Gildenhaus zurück, wenn ich wollte, aber ich durfte das Männerkloster nicht mehr betreten.

In den nächsten Tage ging es mir schon besser. Bea kümmerte sich viel um mich und begann, mir ein paar grundlegende Dinge über die Beherrschung des Laran beizubringen. Man muß die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, auch abschalten können, um nicht verrückt zu werden. Schließlich konnte ich mich auch wieder mit Menschen, die kein Laran hatten, unterhalten, ohne daß jedes laute Wort Kopfschmerzen auslöste. Und so hatte ich noch Gelegenheit, mich von Toma zu verabschieden, bevor er am Ende der Winterferien zur Schule zurückkehrte.

Bea nahm mich einige Zeit später, als ich wieder reisen konnte, mit in ihren Turm, wo sie als Matrix-Technikerin tätig war.

4. Kapitel: Im Turm von Tramontana

Die Schwellenkrankheit, die mich beim Mittwinterfest in der Burg von Tomas Eltern erwischte, dauerte mehrere Langwochen. Als ich wieder reiten konnte, nahm mich Bea mit nach Tramontana in ihren Turm.

Zuerst wollte sie mich in einen Damensattel verfrachten, aber als ich heftig protestierte, daß ich lieber sterben wollte als in so etwas zu sitzen, bekam ich einen normalen Sattel.

So ritt ich mit Bea und den beiden anderen vom Turm durch die stille, verschneite Landschaft. Die Ruhe tat mir gut. Es war schönes Wetter, aber ich hatte keinen Blick für die Natur. Durch die Medikamente war ich noch ziemlich benommen. Ich schaute mich nicht mehr nach der Burg von Tomas Eltern um. Dieser Lebensabschnitt war endgültig vorbei.

Ich kann nicht mehr sagen, ob die Reise zwei Tage oder gar zehn Tage dauerte, so nebelhaft ist meine Erinnerung. Ein Reisetag war wie der andere. Als wir im Turm von Tramontana angekommen waren, gingen meine Kopfschmerzen wieder los, wegen der Laran-Ausstrahlung von den Leuten dort. Eine Frau kam uns in der Eingangshalle entgegen und gab mir etwas zu trinken. Es schmeckte zwar bitter, aber das Kopfweh ließ sofort wieder nach. Dafür verstand ich aber kein Wort mehr von der Unterhaltung der anderen. Dieses Getränk enthielt das Laran-blockierende Raivannin.

Nach einer kleinen Mahlzeit brachte man uns in ein Schlafzimmer, wo ich erst einmal tief und fest schlief. Dann wachte ich wieder mit Kopfweh auf, doch sofort kam jemand und gab mir wieder dieses Getränk. So ging es einige Tage.

Eines Morgens kam eine sehr streng aussehende Frau mit rotem Gewand zu mir ins Zimmer, offenbar die Bewahrerin. Sie untersuchte mich (ohne mich zu berühren), drang dabei (mit meiner Erlaubnis) in meinen Geist ein und stellte dann fest, daß ich ein sehr ungewöhnliches Laran habe (Sie nannte es: "von den Chieri verkrümmt"). Ich hätte wohl starke Empathie, aber eine viel zu schwache Abschirmung.

Noch an demselben Morgen begann meine Laran-Ausbildung. In der ersten Zeit brauchte ich zum Schlafen noch Raivannin. Erst ganz allmählich funktionierte meine Abschirmung auch dann, wenn ich müde war. Es war eine sehr qualvolle Zeit. Doch gegen Ende des Winters, als ich schließlich meine Abschirmung im Griff hatte, konnte ich das Leben im Turm genießen.

Mit den meisten Leuten im Turm verstand ich mich besser als je zuvor mit anderen (kopfblinden) Leuten. Unter Telepathen zu leben, hat doch etwas für sich, vor allem, wenn diese, wie es sich gehört, die Privatsphäre respektieren. Cyril war wie ein Vater zu mir und gab sich viel Mühe, auch wenn ich beim Lernen oft sehr begriffsstutzig war.

Im Frühjahr nach der Schneeschmelze kamen einige Jugendliche aus dem niederen Adel der Umgebung von Tramontana zur Laran-Ausbildung.

Anfangs hatte ich mit ihnen große Schwierigkeiten. Da die meisten von ihnen in den ersten Wochen noch keine Empathie oder Telepathie beherrschten, bekam ich viele Vorurteile gegen "Amazonen" zu spüren. Statt der kameradschaftlichen Jungens des Klosters gab es hier machohafte Jungens und zickige Mädchen.

Da ich keinem Adelsgeschlecht angehörte, war ich für sie auch nur ein Mensch zweiter Klasse. Als Eltern konnte ich nur Camilla und Margali angeben, worauf mich einer neckte und sagte: Entsagende sei wohl dasselbe wie Grezalis. Daraufhin rannte ich heulend raus.

Als dieser Junge sich weigerte, sich bei mir zu entschuldigen, wurde er vom Turm verwiesen.

Mit der Zeit wurde das Verhältnis zu den anderen Jugendlichen besser. Die Jungens merkten, daß "Adel" und "Jagd" nicht alles auf der Welt war, und die Mädchen fanden endlich auch andere Gesprächsthemen als Kleider, Stickereien und Heiraten. So richtig Kontakt bekam ich jedoch nicht zu den anderen Jugendlichen, aber ich kam dann recht gut mit ihnen aus.

In der Freizeit unterhielt ich mich hauptsächlich mit Cyril und einigen Technikern, oder wir ritten aus in die Berge um Tramontana. Die Gegend dort ist sehr schön (für jemand, der wie ich Berge liebt, zumindest). Das Schönste am Leben im Turm war jedoch die Laran-Arbeit und das Aufgehen, dieses Sich-Verlieren, im Matrix-Kreis, auch wenn es sehr anstrengend war.

Ich lief übrigens als einziges ohne eigene Matrix herum. Ich hatte mein Exemplar schon nach wenigen Tagen zurückgegeben (sogar ohne Schmerzen), weil mich das Abschirmen zu sehr anstrengt, wenn eine Matrix dauernd näher als zwei Schritte von mir entfernt ist. Ich habe halt ein seltsames Laran. Sachen wie Telepathie, Halluzinationserzeugung usw. kriege ich auch ohne Matrix fast so gut hin wie die anderen mit einer Matrix.

Wir Jugendlichen neckten uns oft mit Halluzinationen. Manchmal wehrte ich auch so die Annäherungsversuche von Jungens ab. Wenn so etwas geschah, sehnte ich mich ins Kloster zurück zu den Jungens dort, die mich als einen der ihren akzeptiert hatten. Aber der Gedanke, ins Gildenhaus nach Thendara zurückkehren zu dürfen, tröstete mich. Ich hatte doch sehr starkes Heimweh nach Camilla und den anderen.

Im Turm waren einige Männer und Frauen offen zärtlich miteinander, was mich anfangs ziemlich schockierte. Sowohl im Gildenhaus als auch im Kloster hatte ich so etwas noch nie erlebt. Ich selbst war etwas in ein Mädchen mit nußbraunem Haar verliebt, die aber keine Empathie hatte und es nicht merkte. Und zu sagen traue ich mich so etwas nicht.

Während meiner ganzen Turmzeit grübelte ich viel über die Cristoforo-Lehre und meine Identität nach: Als Mädchen müßte ich mich doch in Männer verlieben, und wenn ich mich aber vorwiegend in Mädchen verliebe, muß ich doch ein Junge sein, oder etwa nicht? ( Homosexualität ist bei den Cristoforo verpönt, und auch im Turm gab es keine homosexuellen Paare). Aber warum bin ich dann ins Weibliche umgeschlagen? Fragen über Fragen, die ich bis heute nicht gelöst habe. Irgendwie hatte ich zu große Hemmungen, mit jemandem im Turm darüber zu reden (und auch die Tatsache, daß ich im Gildenhaus lesbische Paare kannte, half mir bis heute nicht, mich von der Cristoforo-Moral zu lösen).

Ich fing an, eine Phobie gegen das Berühren von Kristallen zu bekommen. Dagegen konnte mir auch die Bewahrerin nicht helfen. Da mich die ständige Laran-Arbeit schließlich überanstrengte, schickte man mich im Herbst ins Gildenhaus zurück. Zu gelegentlicher Mithilfe bin ich aber jederzeit wieder willkommen, wurde mir versichert. Einige Freunde, die ich im Turm gewonnen hatte, wie Cyril, versprachen mir, mich in Thendara 'mal zu besuchen. Ich freue mich schon darauf.

Wieder im Gildenhaus

Hier in Thendara hat sich wenig verändert. Ich selbst werde im Gildenhaus wie eine Erwachsene behandelt und habe jetzt meine halbjährige Probezeit, bevor ich im Frühjahr den Eid als Entsagende ablege. Bald ist schon wieder Mittwinterfest, wo ich für volljährig erklärt werde, weil ich dann ungefähr 15 Jahre alt bin. Das letzte Fest bei Tomas Eltern kommt mir schon wie vor einer Ewigkeit her vor, dabei ist noch nicht einmal ein ganzes Jahr vergangen. Damals war ich noch ein Kind, jetzt bin ich so gut wie erwachsen. Das ist ein komisches Gefühl. Nicht mehr Kris emmasca, sondern (nach dem Eid) Kris n'ha Camilla zu sein.

Ich bin gespannt, was die Zukunft bringt. Wenn ich nach der Probezeit wieder raus darf, werde ich als erstes Reisegruppen begleiten, denn dieses Eingeschlossensein finde ich blöd.

Kris n´ha Camilla

 

Kieran - Eine Amazone erinnert sich

In dieser Geschichte wird die Freundschaft zweier zwitterhafter Telepathen auf dem Planeten Darkover erzählt. Die Geschichte beschreibt meine Freundschaft mit Kieran, wobei die hier zitierten Briefe Kierans gekürzte Originalbriefe sind. Es war Kierans Idee, uns "Darkover-Identitäten" zuzulegen. Die Geschichte spielt auf Ereignisse von 1987 bis 1994 an.

Kris n'ha Camilla erzählt:

Jetzt ist es wohl endgültig: Kieran-Gwynn Alton, Bewahrer von Neskaya, kommt nicht mehr nach Darkover zurück. Vor einem Jahr verließ er Darkover, um bei den Terranern den Bau von Musikinstrumenten zu lernen. Einer der Leute aus dem Neskaya-Turm, Bernado, hatte zuletzt im Herbst vorigen Jahres einen kurzen Relais-Kontakt mit ihm. Danach befindet sich Kieran jetzt glücklich auf einem Planeten des Imperiums, wo niemand Darkover kennt, geschweige denn von Kierans "Anderssein" weiß. Dort beschäftigt er sich mit antiker terranischer Musik und komponiert wohl auch selbst.

Ich glaube, Kieran war auch im Turm unter den Telepathen immer sehr allein durch sein "Anderssein". Denn sein Laran war dermaßen andersartig als das der anderen Turmbewohner, daß er sogar im Turm keine Geborgenheit fand wie alle anderen Leron'yn, nicht einmal das bißchen Geborgenheit, das sonst Bewahrer in einem Turm haben! Es fiel Kieran leichter, eine Matrix höherer Ebene alleine zu benutzen als den dafür üblichen Matrixkreis mit der erforderlichen Zahl von Personen zu bilden.

Und jetzt befindet sich Kieran auf einem Planeten, wo niemand an die Existenz von Psi glaubt und wo er ein normaler Mensch unter Menschen sein kann. Mein Gefühl sagt mir, daß er nicht nach Darkover zurückkehren, sondern daß er höchstens einmal Kostproben seiner Musik schicken wird.

Es gab auch Gerüchte, daß Kieran zuletzt Ärger im Turm von Neskaya hatte, was mit ein Grund sein kann, daß er sich nicht einmal mehr meldet.

Da ich wohl zu den wenigen Menschen gehöre, die ihn näher kannten, sollte ich einmal erzählen, wie ich ihn erlebte. Am besten, ich gehe chronologisch vor:

Kieran wuchs nach dem frühen Tod der Eltern als Pflegekind der Bewahrerin Callina im Neskaya-Turm auf. Als Kind und Jugendlicher war Kieran emmasca, und niemand konnte vorhersagen, ob Kieran Mann oder Frau werden würde oder vielleicht immer emmasca bleiben würde. So etwas gibt es ja sonst nur bei Chieri oder Halbchieri.

Als ich Kieran kennenlernte, war er noch Kind und wurde Kieristelli genannt. Kieristelli bedeutet Kriställchen, und das entsprach wohl Kierans Wesen, nämlich dem einer "lebenden Matrix", wie er immer scherzhaft (oder sogar im Ernst?) sagte. Ich selbst war damals gerade als junge Entsagende vereidigt worden und begleitete mit anderen Entsagenden zusammen als Eskorte verschiedene Reisegruppen. Auch ich war emmasca und bin es - im Gegensatz zu Kieran - heute noch, wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß wie früher.

Meine erste Begegnung mit Kieran

Etwa ein Jahr, nachdem ich vom Turm von Tramontana ins Gildenhaus zurückgekehrt war, wurde ich gebeten, im Neskayaturm bei einem Experiment mit einer besonders großen Matrix auszuhelfen. Ich hatte zwar ziemliche Angst davor (die Matrix sollte mehr als neun Ebenen haben), sagte aber sofort begeistert zu und reiste zusammen mit einigen vom Turm in Thendara, die auch dabei mitmachen sollten, nach Neskaya. Das Wetter war recht gut, und wir kamen schnell voran. Auf dem letzten Wegstück stießen noch einige andere Matrix-Erfahrene zu uns, unter anderen mein Freund Cyril vom Tramontanaturm, der mir einige Neuigkeiten aus dem Turm von Tramontana erzählte. Ich finde es sehr praktisch, daß man sich mit Laran auch dann unterhalten kann, wenn man nicht nebeneinander reitet. Kopfblinde haben es da schwerer, zumal man ja auf schlechten Wegstrecken oft nur hintereinander reiten kann.

Ich erzählte gerade Cyril, was ich in der Kindheit für Schwierigkeiten mit dem Sprechen hatte, und erzählte ihm die Geschichte, wie mir mein Sprachlehrer im Gildenhaus (natürlich im Besucherraum, der auch für Männer erlaubt ist) das "r" beibrachte. "Schwarzbart", wie ich ihn nannte, hatte mir telepathisch die Zungenstellung gezeigt. Schließlich hatte ich es raus, vergaß aber zu atmen. Schwarzbart sagte nur lakonisch:

"Du machst es schon prima - jetzt brauchst du nur noch Zuhörer, die von den Lippen lesen könne."

Cyril mußte laut lachen über diese Anekdote. Dann fing er an, mir auch eine Geschichte aus seiner Kindheit zu erzählen. Als wir aber am Turm ankamen, verstand ich plötzlich nichts mehr. Eine starke Laranausstrahlung lenkte mich ab. Wenn jemand in der Nähe mit einer Matrix arbeitet, muß ich mich immer abschotten und kann nicht mehr Gedanken lesen. Ich rief Cyril dies laut (akustisch) zu und hoffte, daß er es hörte.

Die Ursache der starken Laranausstrahlung hatte ich gleich entdeckt: Ein Baum flog durch die Luft und schlug Purzelbäume. Dann sah ich einige Kinder dabeistehen.

"Was soll dieser Unfug!" rief ich ihnen zu, und der Baum kehrte zur Erde zurück.

Nun konnte ich meine Laransperre wieder öffnen. Eines der Kinder sah mich an und rief zurück:

"Was soll dieses Geschimpfe! Ich spiele doch nur mit meinem Bäumchen."

"Einen Baum fliegen zu lassen, ist Quälerei und kein Spiel." erklärte ich ärgerlich und dachte dabei an die Ausstrahlung, die zu spüren ist, wenn Bäume gefällt werden (diese Laranausstrahlung können allerdings nur sehr wenige Menschen wahrnehmen).

"Aber ich verletze den Baum doch gar nicht," antwortete das Kind, "er hat sogar Spaß am Fliegen!"

"Tut mir leid," entschuldigte ich mich, "aber bei deiner starken Laranausstrahlung konnte ich die Ausstrahlung des Baumes nicht spüren."

Wir sahen uns einen Augenblick wortlos in die Augen.

"Übrigens, ich heiße Kieristelli Alton und wohne hier im Turm." sagte schließlich das Kind und fügte in Gedanken hinzu, so daß nur ich es verstand:

"Und ich bin auch emmasca wie du."

"Und ich bin Kris n'ha Camilla aus Thendara," antwortete ich laut und fügte in Gedanken hinzu:

"Aber daß ich emmasca bin, wissen nur wenige. Ich glaube, wir werden uns gut verstehen."

Dann erzählten wir uns unsere Lebensgeschichten.

Plötzlich lachte Kieristelli laut auf.

"Was ist los?" fragte ich.

"Hörst du nichts?" fragte Kieristelli verwundert.

"Da streiten sich zwei der Kinder, ob du ein Mann oder eine Frau bist, und zwei aus deiner Reisegruppe diskutieren, ob ich ein Junge oder ein Mädchen bin. Jetzt prügeln sich die beiden Kinder sogar deswegen!"

Ich lachte mit. Zwei Emmasca auf einmal, das ist schon etwas besonderes. Kieristelli war allerdings viel neutraler als ich. Ich bin zu manchen Zeiten mehr weiblich und zu anderen Zeiten mehr männlich.

Cyril rief mir zu, daß ich die anderen nicht warten lassen sollte. Da winkte ich Kieristelli kurz zu und sagte, daß wir uns ja nachher noch sehen könnten, und eilte den anderen aus der Reisegruppe nach, die bereits dabei waren, ihre Pferde am Tor den Knechten zu übergeben.

Kieran schilderte das anschließende Experiment im Neskayaturm in einem Bericht, den ich hier auszugsweise wiedergebe. Bei diesem Experiment mit der besonders großen Matrix handelte es sich nach Kierans Angaben um eine 25-Ebenen-Matrix. Ich bezweifele es heute, daß es so war, aber wohlgemerkt - Kierans Laran war so völlig anders als das bei anderen Menschen übliche, so daß es durchaus eine 25-Ebenen-Matrix gewesen sein kann.

Was in Kierans Bericht nicht stimmt, ist, daß ich damals irgendeinem Menschen, ausser Kieran selbst, auch nicht Auster, erzählt habe, daß ich emmasca bin. Ich kann es zwar oft nicht verbergen, aber herumerzählen tat ich es nicht.

Aus der Erzählung Kierans

(...) Auster drehte sein Glas zwischen den Händen hin und her.

"Und du fragtest, ob ich dich überwache. Nun, das werde ich schon noch tun, aber erst nachher. Hast du etwa doch Bammel?"

"Ach nein! Ich bin nur so gespannt, was Callina vorhat. So früh hat sie mich ja noch nie schlafen geschickt - nur einmal, als ich mir den Fuß verletzt hatte und noch nicht so richtig überwachen konnte. Bammel scheint ja eher Kris zu haben. Gestern nachmittag hatte sie mir noch gesagt, daß Matrix-Arbeit ihr schon immer irgendwie etwas unheimlich sei."

"Kris?" fragte Auster, "Ach so! Du meinst die Amazone, die zusammen mit Cyril heute in aller Frühe angekommen ist und noch schläft. Ich hörte übrigens, daß sie eine Emmasca sei. Stimmt das?"

"Ja. - Aber sag' doch nicht ‚Amazonen'! Du weißt doch, sie mögen dieses Wort nicht. Es klingt ja auch wirklich blöd, irgendwie so nach Streit."

"D'sperdo, Preciosa! Das ist wirklich eine dumme Gewohnheit, und ich müßte es eigentlich besser wissen. Wir haben in Arilinn ja viel mit den Hebammen zu tun, wo sie ihre Schule haben."

"Schon klar, Bredu. Ach, du hättest dabeisein sollen, wie Kris geglotzt hat, als mein kleines Bäumchen vor ihrer Nase herumgesegelt ist. Du hast es am Felsen ja schon gesehen. Soll ich dir zeigen, wie es sich dabei immer freut, wenn ich's fliegen lasse? Die Schärpe flattert dann wie eine Fahne."

Neugierig blickte mich Auster an, nickte, und wir traten in Rapport. Er sah nun, wie ich "mein" Bäumchen mittels meiner Matrix aus dem Boden hob und ein Weilchen durch die Luft "segeln" ließ. Und er spürte auch, wie wohl es sich dabei immer fühlte. Dann zeigte ich Auster, wie ich es wieder fein säuberlich an seinen angestammten Platz "zurückpflanzte".

Auster lachte, als ich meine "Gedanken-Sendung" beendet hatte. Und ich sagte laut:

"Übrigens wäre Kris beinahe vom Pferd gefallen, weil ich gleich gemerkt hab', daß sie emmasca ist! Aber wir hatten uns sofort lieb. Wir fanden beide, daß wir einander fast ähnlicher sind als viele Geschwister. Da haben wir uns einander ganz fest umarmt. Ach, wenn Kris doch bloß länger bleiben könnte. Aber das geht nicht, sie muß schon in 5 Tagen weiterreiten. Sie hat aber gesagt, daß sie noch in diesem Sommer wieder zum Gildenhaus in Neskaya kommen wird. Sie kann ja dann hier im Turm übernachten, bei mir."

"Ja, das hat Kris mir sogar selbst erzählt", sagte Auster.

"Auch, daß du sie als emmasca erkannt hast. Aber so neutral wie du ist sie ja nicht."

"Allerdings!" rief ich, denn mir fiel ein, was mir an Kris so merkwürdig erschienen war.

"Sie hat da irgendwas mit ihren Körperzellen ... die sind ganz anders als bei mir ... und sie wackelt so seltsam."

Auster fragte:

"Wie meinst du das? Womit ‚wackelt' sie?"

Als er aber meinen Gedanken auffing, schmunzelte er:

"Ach so! Das meinst du. Kris ist eine natürliche emmasca - und die sind manchmal eine Zeitlang eher männlich und manchmal mehr weiblich. Bei den Chieri ist das ja auch so. Nur allein die modifizierten Emmascas können nicht ‚wackeln', sie ändern sich gar nicht."

Er stand auf, holte die Saft-Karaffe vom Tisch und füllte sein Glas. Als er sich wieder zu mir setzte, gab er mir mein noch fast volles und fragte leise:

"Verstehst du?"

Ich trank ein paar Schlucke.

"Nicht so ganz", antwortete ich und spielte mit den Verschluß-Schnürchen an meinem Matrix-Beutelchen herum.

"Wieso sind Kris und ich gleich, aber gleichzeitig ungleich?" fragte ich, indem ich nun ebenso auch mit den Worten herumspielte.

"Denn auch ich bin ja keine ‚gematrixte' emmasca und wackle trotzdem nicht."

Mit seinerseits nachdenklichem Blick antwortete Auster:

"Du wirst dich wohl damit abfinden müssen, das einzige ‚Exemplar' zu sein." (...)

(...) "Komm!"

Callina schien direkt neben meinem linken Ohr zu stehen, jedoch saß sie ein ganzes Stück entfernt auf ihrem etwas erhöhten Platz in der Mitte des Raumes. Auster stupste mich an.

"Jetzt geht's los!"

Langsam ging ich auf Callina zu, auf den Tisch, der um einiges größer war als der, den ich kannte in einem ungewöhnlich flachen Rahmen aus starken Weidenruten, die fast so dick waren wie die Finger eines kräftigen Mannes. - Die unmittelbare Gegenwart der enthüllten Riesenmatrix löste ganz tief in meinem Innern ein Zittern aus ... Ein seltsames Hochgefühl erfaßte mich. Und ich empfand einen Respekt, wie ich ihn bisher noch nie empfunden hatte!

"Lege jetzt alle Gewänder ab!"

Ich schrak auf. Callina blickte mir direkt in die Augen.

"Tu es."

Es war ein Befehl, der Befehl einer Bewahrerin! Völlig überrascht gehorchte ich: Fast mechanisch und mir dessen kaum bewußt, entkleidete ich mich und faltete alles sorgfältig zusammen. Callina legte den kleinen, flachen Stapel neben sich auf den Boden.

Völlig unbekleidet stand ich hier, vor all diesen Leron'yn und vor so vielen Fremden! ... Und ich kam mir vor wie in einem absurden Traum. Mir wurde nun doch etwas mulmig zumute, meine Zitterei wurde schlimmer. Jeder konnte nun meinen Emmasca-Körper sehen - den ich zwar nie versteckt, aber andererseits auch noch nie derart den Blicken nicht zum Turm gehörender Personen preisgegeben hatte!

Als ich so dastand und fragend Callina anschaute, erblickte ich hinter ihr, in der äußersten Sitzreihe gegenüber der Tür, Kris n'ha Camilla, die irgendwie angespannt und etwas nervös wirkte. Ziemlich verlegen lächelte sie mir zu - und mir fiel ein, was sie mir gestern noch über ihre Scheu vor jeder Art von Matrix-Arbeit erzählt hatte. Trotz meiner eigenen Nervosität sandte ich ihr einen beruhigenden Gedanken zu. Irgendwie schien mir das zarte Band, das seit gestern zwischen uns bestand, durch meine Nacktheit verstärkt zu werden ... Und irgendwie schien mir, als seien wir bereits seit längerer Zeit aufeinander zugegangen, ohne es zu wissen. Mit einer seltsamen Klarheit wußte ich, daß es uns bestimmt gewesen war, uns hier in diesem Raum zu finden, daß wir, jeder auf seine eigene Weise, eine Art gemeinsames "Ziel" erreicht hatten - auch wenn es für jeden von uns anders aussah. Und die verbindende Rolle "spielte" dabei das Große Matrix-Gitter aus Thendara, von wo auch Kris hierhergeritten war ...

Plötzlich wurde ich von einer seltsamen wohligen Wärme erfüllt - und im selben Moment verflüchtigte sich meine Zitterei wie Nebel im Sonnenlicht. (...)

Antwort von Kris auf Kieristellis Brief

Hallo Kieristelli,

Dein Brief mit dem Bericht über das große Matrix-Experiment hat mich sehr gefreut. Ich hätte nicht gedacht, daß das schon ein halbes Jahr her ist. Ich freue mich, daß Du mich und die anderen demnächst hier in Thendara besuchen willst, denn bis zum Sommer, wenn ich wieder mal nach Neskaya komme, ist es ja noch so lange hin. Hoffentlich haben wir dann etwas mehr Zeit füreinander! Bei dem großen Experiment hatte ich ja leider so wenig Zeit, weil ich gleich weiterreisen mußte, um eine Reisegruppe zu führen. Es ist übrigens erstaunlich, wieviel Ähnlichkeit wir beide trotz unserer Unterschiede haben. Auch ich bin ja Emmasca, aber doch auf eine ganz andere Art als Du. Während Du völlig zufrieden damit bist und Dich damit durchsetzen kannst, habe ich Schwierigkeiten mit dem Emmasca-Sein in unserer starren Mann-Frau-Gesellschaft.

Margali sagte mir, daß die Terraner da noch schlimmer seien - die würden bei jedem Emmasca-Baby gleich zum Chirurgenmesser greifen. Was soll ich machen? Ich bin nun einmal nicht nur körperlich, sondern wie Du auch psychisch Emmasca. Zwar kann ich mich den Umständen entsprechend mal weiblicher oder mal männlicher verhalten, aber es macht mir doch Mühe. Meine letzte Freundin habe ich wirklich sehr geliebt, aber sie wollte gerne einen "richtigen Mann". Vielleicht hätte ich mich dahin entwickelt, wenn sie mir Zeit gelassen hätte. Anderen Mädchen, in die ich verliebt war, war ich dagegen zu männlich. In der Regel lebe ich aber genauso asexuell wie Du. Man merkt mir den starken Cristoforo-Einfluß an, den ich leider nicht abschütteln kann. Manchmal bin ich sehr zärtlichkeitsbedürftig, zum Beispiel bei Festen, ähnlich wie Rafi, oder wenn ich große Angst habe oder hatte. Wenn ich (mit anderen Entsagenden zusammen) Reisende in gefährliche Gebiete begleite, brauche ich schon mal nach einem Kampf gegen Räuber ein paar Zärtlichkeiten (keinen Sex!) - egal, ob von einem Mann oder von einer Frau.

Ich kann übrigens jetzt schon recht gut kämpfen. Camilla ist ganz zufrieden mit mir. Während ich in den meisten Dingen nach Camilla schlage, habe ich in einigen Dingen auch große Ähnlichkeit mit Margali, zum Beispiel beim Handarbeiten, die ich genauso ungern mache. Am meisten hasse ich das Wollespinnen; ich kriege einfach keine ordentlichen Fäden hin.

Aber zurück zu Deinem Brief:

Du schreibst, daß Auster Dir gesagt hat, daß ich ihm von meinem Emmasca-Sein erzählt hätte. Da hat er Dir nur einen Teil der Geschichte erzählt, die Sache war nämlich so:

Ich saß mit Cyril beim Abendessen in Eurem Turm. Der Raum war rammelvoll, was ich nervig fand. Die anderen erzählten alle von der Größer-als-Neuner-Matrix, mit der am nächsten Tag experimentiert werden sollte. Natürlich bekam ich ziemliche Angst bei dem Gedanken daran. Außerdem war ich von der Reise erschöpft. Cyril bemerkte, daß ich am liebsten wieder schutzsuchend in seine Arme gesunken wäre und sagte zu mir:

"Du bist doch kein kleines Mädchen mehr, Kris. Kopf hoch, das wirst du auch noch überleben!"

Während ich noch vor Angst zitterte, fuhr er fort:

"Wenn du Angst hast heute Nacht, kannst du auch bei mir im Zimmer schlafen."

Ich blickte ihn dankbar und auch etwas liebessehnsüchtig an. Cyril sagte daraufhin:

"Für mich ist es eine Ehre, wenn eine ansonsten so männerscheue Amazone - äh - Entsagende bei mir schlafen will ..."

Dabei streichelte er unter dem Tisch meine Hand. Ich sah ihn wütend an, während er fortfuhr:

"... Und eine so hübsche Entsagende dazu ...".

Meine Wut schwand und ich schnurrte innerlich und fühlte mich sehr weiblich.

Ausgerechnet in diesem Augenblick sagte (oder dachte) jemand am Nebentisch:

"Ist diese Person neben Cyril eigentlich auch so emmasca wie Kieristelli?"

Wütend schleuderte ich meine Tasse in Richtung dieses unverschämt Fragenden und traf Auster. Es war wohl eher sein Gesprächspartner, der diese Frage gestellt hatte, aber zumindest war diese Frage damit klar beantwortet. Ich entschuldigte mich natürlich und erzählte Auster, daß mich auch Du schon entlarvt hast. Als Überwacher hätte es Auster natürlich sowieso von mir am nächsten Morgen gesagt bekommen, als wir uns für die Matrix-Sitzung fertig machten. Aber ich hatte halt Angst, daß Cyril von den Zärtlichkeiten abgelassen hätte, wenn er an mein Emmasca-Sein erinnert worden wäre.

Adelandeyo,

Kris n'ha Camilla

Kierans Kindheit und Jugend

Die Tatsache, daß wir beide emmasca waren, verband uns, auch wenn wir sonst völlig verschieden waren. Ich besuchte Kieran öfters in Neskaya und er mich in Thendara. Er war übrigens damals noch so völlig emmasca, daß er bei mir im Gildenhaus übernachten durfte. Erst als er 15 Jahre alt war und eindeutig männlich wurde, mußte er sich auf das Besucherzimmer beschränken.

Kieran schrieb wenig Briefe, dann aber sehr lange. Dafür hielt er es stundenlang in den Relais aus, um über persönliche oder unwichtige Dinge zu reden, was sonst keiner der Turmbewohner ausgehalten hätte.

Typisch für sein Desinteresse an der materiellen Welt war sein Kinderzimmer im Turm, in das er nur wenige Fremde ließ:

In der einen Ecke lag der nasse Taucheranzug. Das Bett war mit terranischen Abenteuerbüchern übersät, und auf den Tischen und Stühlen lagen überall Lötkolben, Kristalle und Drahtspulen herum. Auf einem Stuhl lag ein halbfertiges Matrixgitter.

Ich glaube fast, die haben Kieran nur deshalb als Kind so früh in die Relais gelassen, damit er nicht aus Frust seine eigenen Schirme und Teleportgitter bastelte und damit Unheil anrichtete.

Wenn eines der Kyrrhi sein Zimmer aufräumen wollte, reagierte Kieran verstört. Als ich beim ersten Besuch bei Kieran einen Krug sauer gewordener Milch hinaustragen wollte, wurde Kieran selber fast "sauer".

Beachtlich waren Kierans musikalische Fähigkeiten schon in seiner Kindheit. Ich singe ja gerne, und Kieran sang manchmal spontan eine zweite Stimme dazu. Später war er wohl von meinem Gesang nicht mehr so erbaut, glaube ich. Als Erwachsener baute er sich antike terranische Musikinstrumente nach und spielte sie ebenso perfekt wie die Rryll.

So wie ich Kieran (bzw. damals noch Kieristelli) möglichst oft in Neskaya besuchte, nutzte auch Kieran jede Gelegenheit, seine Pflegemutter nach Thendara zu begleiten, wo er außer mir auch noch die alte Bewahrerin (Ashara) im Turm von Thendara besuchte, die ich persönlich nicht ausstehen konnte, weil sie nichts Menschliches mehr an sich hatte, aber gerade dies schien Kieran zu faszinieren.

Als Kind war Kieran, wie die meisten Kinder, auch zu Streichen aufgelegt. Aufgrund seiner Laranfähigkeiten waren sie allerdings oft anders geartet als bei gewöhnlichen Kindern. An ein Erlebnis erinnere ich mich noch besonders gut:

Kieristelli und ich schlenderten gerade über einen der Märkte von Thendara. Wir waren in bester Stimmung. An einem der Marktstände blieb Kieristelli stehen und sagte schmunzelnd:

"Guck 'mal, diese Krapfen sehen doch aus wie Menschenköpfe, nicht?"

Er deutete auf die Marmeladeschicht:

"Das ist der Mund" und plötzlich begannen sich diese "Marmeladenmünder" zu bewegen. Der Standinhaber stieß einen Schreckensschrei aus.

"Und dieses Gebäck sieht aus wie Vögel" fuhr Kieristelli fort - und schon flatterte eines dieser Kuchenstücke wie ein Schmetterling in die Luft.

Kieristelli lachte über die verdutzten Gesichter der Leute ringsum. Aber als einige anfingen, in Panik davonzulaufen, ließ er die Kuchenstücke in Ruhe, und wir schlichen uns unauffällig davon, bevor jemand Kieristelli als Urheber entlarven konnte. Selbst ich hatte nicht bemerkt, daß er zu seiner Matrix gegriffen hatte!

Eigentlich hätte ich Kieristelli wegen Laranmißbrauch ausschimpfen müssen, aber als wir wieder im Gildenhaus saßen und uns die Situation und die verdatterten Gesichter der Leute ins Gedächtnis riefen, mußten wir beide immer wieder kichern.

Meine Krisenzeit

Als ich ungefähr Mitte zwanzig war, kamen Camilla, meine Pflegemutter, und Margali, ihre Freipartnerin, bei einem Waldbrand um, was ich empathisch miterlebte und was mich in eine Psychose riß. Kieran war einer der wenigen Menschen, die bedingungslos zu mir hielten, auch als es mir schlecht ging und ich mich sonderbar verhielt.

Im Gildenhaus wurde mir verboten, weiter die Kinder zu unterrichten (ich unterrichtete Musik und Selbstverteidigung) und das selbstgezogene Gemüse auf dem Markt zu verkaufen. Offenbar hatten die Gildenschwestern Angst, ich wirke abschreckend auf die Käufer.

Erst ein halbes Jahr später war ich bereit, den Tod Camillas und Margalis als Tatsache zu akzeptieren, aber meine Erinnerung an das empathisch Miterlebte und an die Ereignisse der anschließenden Langwochen im Gildenhaus bleibt bruchstückhaft.

Hier gebe ich einen Brief von mir an Kieran und Kierans Antwort wieder. Ich schrieb damals Briefe oft erst ins Konzept, welches ich aufbewahrte, und verschickte eine saubere Reinschrift.

Kris n'ha Camillas Brief an Kieran

Hallo, liebes Kriställchen,

entschuldige bitte, wenn ich so lange nichts mehr von mir habe hören lassen. Ich war leider sehr krank und dachte schon fast, ich sterbe. Aber jetzt geht es mir bereits etwas besser. Vielleicht verlasse ich das Gildenhaus. Margali und Camilla sind nicht mehr hier, und von den anderen, die alle kopfblind sind, wird der Druck auf mich immer stärker. Jetzt stören sie sich nämlich alle daran, daß ich Laran habe und daß ich emmasca bin. Im Augenblick sehe ich leider mal wieder eher männlich aus und im Gildenhaus darf "frau" sich zwar sehr männlich benehmen, aber wehe, sie fängt an, allzu männlich auszusehen!

Und wegen Laran wird man zwar nicht mehr umgebracht wie seinerzeit Cleindori und die anderen vom verbotenen Turm, aber der Psychoterror ist dennoch mörderisch. Jetzt hält man mich sogar von den Kindern fern - als ob Laran eine ansteckende Krankheit wäre! Den schlimmsten Krach hatte ich mit der Mutter von Gwennis. Jetzt verlangt sie, daß ich das Gildenhaus verlasse oder sie holt Gwennis "nach Hause". Dorilis redet auch nicht mehr mit mir. Sie hat etwas gegen Lesben. Der einzige Lichtblick für mich sind im Moment die Terranan. Ich lernte dort neulich in der Bibliothek der Terranan Annelys kennen. Sie ist sehr nett und tröstete mich gelegentlich, wenn der Ärger zu schlimm wurde. Sie sagte mir, daß die Terranan zwar noch bornierter seien als die Darkovaner, aber die wenigen Terraner, die sich die Mühe machten, auch privat Kontakt zu Darkovanern zu unterhalten, seien sehr nett und sehr tolerant. Die würden sich auch am Laran nicht stören (und an meinem Emmasca-Sein).

Als mir neulich so elend war, daß ich in der Bibliothek fast zusammenbrach, brachte Annelys mich zu den terranischen Ärzten. Auf dem Weg in die medizinische Abteilung stieß ich mit einem Darkovaner zusammen, den ich nicht bemerkt hatte, weil er keine Laranausstrahlung hatte. Ich entschuldigte mich gleich und bewunderte insgeheim seine starke Laranabschirmung. Annelys aber lachte laut und sagte mir, daß ich gegen einen Spiegel gelaufen sei. Stell Dir vor, ein Spiegel, so groß wie die ganze Wand! Wenn ich mich so im Spiegel betrachte, sehe ich ja zur Zeit tatsächlich mehr wie ein Mann aus, als wie eine Frau.

Die terranischen Ärzte halfen mir etwas mit ihren Arzneien, aber sie erklärten mir, daß meine Krankheit die Folge davon sei, daß die Mitmenschen intolerant gegen Leute wie mich sind, die nicht in das Mann-Frau-Schema passen. Sie schlugen vor, mich zu operieren und die Emmasca-Merkmale meines Körpers chirurgisch zu beseitigen. Die Mitmenschen könne ich nun mal nicht verändern. Annelys holte später einen Apparat, der in ganz kurzer Zeit ein Bild von mir malte, und gab es mir. Ich ging damit zur Spiegelwand und verglich es mit meinem Spiegelbild. Ich stellte fest, daß die Narbe auf der falschen Seite der Stirn gemalt sei und sagte es Annelys. Sie erklärte mir, daß Spiegel einen immer seitenverkehrt zeigen. Ich hob daraufhin die linke Hand - das Spiegelbild hob die rechte Hand. Mir blieb jedoch unklar, wieso die Terranan Apparate bauen können, die in kürzester Zeit Bilder von einem machen, die richtig herum sind, aber keine Spiegel, die einen richtig herum zeigen.

Annelys ging dann zu einem Terminal an der Wand, steckte das Bild kurz hinein und ließ das Terminal erst ein Bild malen, wie ich ohne Narbe aussehen würde, dann eines, wie ich als richtiger Mann und zuletzt eines, wie ich als richtige Frau aussehen würde. Die Narbe ließ ich mir inzwischen wegmachen. Meine kämpferischen Zeiten sind vorbei. Wenn die kopfblinden Amazonen mich nicht mehr haben wollen, kämpfe ich auch nicht mehr für sie. Für eines der beiden Geschlechter kann ich mich aber immer noch nicht ganz entscheiden. Vielleicht sollte ich mal wieder einige Zeit (oder für immer?) in einen Turm gehen, um mich dort zu erholen. Meine Abschirmung ist inzwischen besser als früher, und ich könnte jetzt die Matrix-Arbeit länger aushalten als damals in der Ausbildung. Unter Kopfblinden ist das Leben doch sehr unangenehm, wenn man/frau psychisch schlecht drauf ist.

Hier in Thendara habe ich allerdings keinen Kontakt zum Turm. Zur Zeit ist hier im Turm keine Bewahrerin, und die anderen dort haben immer "keine Zeit", wenn ich mich mal ausheulen möchte. (Anmerkung: Mit meiner Psychose war ich damals wohl ein zu schwieriger Fall für sie. Als ich den Brief schrieb, war mir aber mein Zustand noch nicht bewußt.) Vielleicht gehe ich auch für einige Zeit zu den Terranan. Ich könnte für sie Darkoverberichte schreiben, wie früher einmal eine Freundin von Margali. Aber ich weiß nicht, wie weit ich mich an ihr grelles Licht auf Dauer gewöhnen könnte. Nach so einem Tag bei den Terranern tun mir abends immer die Augen weh. Auf jeden Fall aber werde ich Dich noch vor dem Winter besuchen kommen, Kieristelli. Dann zeige ich Dir auch die Bilder. Sie sehen ulkig aus, besonders das von mir als Mann.

Bis dann,

Adelandeyo,

Kris

P.S. Eine Vorahnung sagt mir, daß irgendwann noch zu unserer Lebzeit Darkovaner und Terraner zusammen eine Art verbotenen Turm machen werden, und dann wird niemand mehr deswegen das Maul aufreißen und Psychoterror machen.

Auszug aus Kierans (Kieristellis) Brief

Persönliche Botschaft

für Kris n'ha Camilla - Thendara-Gildenhaus der Comhi-Letzii

von Kieristelli Varzil Gwynn Alton di Neskaya - Neskaya-Turm

versiegelt und abgesandt (Kurier) am 23.09.1988

Bon Dies, Kris!

Ach, geliebter Bredi, mir tut's ja wirklich sehr leid, daß Du so lange auf meine Antwort warten mußtest. Es hat lange gedauert, bis jemand aus dem hiesigen Gildenhaus mir Deine erste Botschaft überreicht hatte, die ja (besonders inhaltlich) wahrhaftig überaus "reichhaltig" war. Aber kaum war ich mit deren Beantwortung einigermaßen weit vorangekommen, da erreichte mich Deine zweite Botschaft aus dem Terranischen HQ. Und da ich es am einfachsten fand, die beiden Briefe zusammen zu beantworten, ... nun ja, es dauerte noch länger. Doch immerhin hatte ich ja inzwischen über Relais mit Dir in Kontakt treten können, und ganz sicher werden wir auf diese Weise noch ein paarmal direkt miteinander sprechen - wie gut, daß der Alte Turm sowohl vom Gildenhaus als auch von der Terranan-Enklave (und dem HQ) sogar ohne Pferd schnell erreichbar ist! (...)

Aber was Du über das Verhalten einiger "Mit"-Schwestern im Thendara-Gildenhaus berichtet hast, hat mich ziemlich betrübt. Mir erscheint's ja schon sehr verwunderlich, daß es überhaupt möglich sein kann, daß eine Angehörige der Gilde von ihren "Mit"-Schwestern so terrorisiert wird! Ich kann mir nicht vorstellen, daß die anderen einfach zugucken, ohne diese Schwachköpfe zur Rechenschaft zu ziehen, die doch so offenkundig ihren Eid brechen.

Außerdem kann ich Dir getrost versichern: Jede/r, die/der Dich unter Druck setzt oder gar ablehnt, bloß weil Du "lesbisch" bist, zeigt nur die eigene Blödheit! Denn "lesbische" Freundschaften, ja, sogar Freipartnerschaften, sind in der Gilde zwar nicht die Regel, aber längst keine Seltenheit! Und wenn jemand Dir an die Gurgel geht, bloß weil Du emmasca bist, so kannst Du ihr/ihm ja offen sagen, daß Du Dich als Frau empfindest (aber ich empfehle Dir, über Dein "Wackeln" nur mit Personen zu sprechen, denen Du wirklich vertrauen kannst!).

Falls Dir aber eine Deiner "Mit"-Schwestern Dein (zeitweilig?) "männliches" Aussehen verübelt, so weise sie am besten darauf hin, daß auch andere Entsagende so "männlich" erscheinen, daß sie sich jahrelang als Mann ausgeben können, ohne jemals als Frau erkannt zu werden - und das waren/sind ja keineswegs nur Emmasca'in (egal, ob operierte oder natürliche)! Falls Dir aber diejenige/n, der/denen Du dies sagst, noch immer blöd kommen, so frage sie doch einfach mal, wie sie denn reagieren würde/n, wenn ein Mann zum Gildenhaus käme und sie ersuchen würde, ihn in die Gilde aufzunehmen, weil er ja schließlich so sehr "weiblich" aussieht! ... Umgekehrt würde ja auch in der Garde kein Mann nur wegen seines "weiblichen" Aussehens benachteiligt werden (und das will ja bei den teils sehr rauhen Sitten schon was heißen!).

Und wenn das immer noch nicht wirkt, dann ist/sind sie noch viel dümmer als der vielbesagte Räuber Durraman samt seinem vielbesagten Klapper-Esel. (...)

Auch die Abneigung jener treulosen "Mit"-Schwestern gegen Dein Laran kann nur ein Zeichen von Neid oder zumindest von Dummheit sein. Denn schließlich haben ja etliche Gilden-Angehörige Cam'yn-Blut. Ich habe nicht vergessen, daß Du mit niemandem über die Schwarze Schwesternschaft sprechen darfst, außer mit deren Mitgliedern. Allerdings darfst Du auch mit mir über die Avarra-Priesterinnen sprechen, da (auch) ich mit ihnen in Verbindung stehe (übrigens auch schon seit meiner Rikhi-Zeit, als Ashara mich verpflichtet hatte, in jedem Zyklus für einen ganzen Tag zu ihr in den Alten Turm zu kommen). Außerdem war ich mit Margali befreundet, die meinen Vater schon kennengelernt hatte, als er noch ein 5-jähriges, verstummtes Kind war. Sie ist zwar sehr weit entfernt, aber in der Überwelt "sehen" wir einander gelegentlich heute noch.

Also, Carya y Preciosa mea, laß Dich nicht beirren durch irgendwelche "Amazonen", die den Gilden-Eid so mißachten. Sie sind Verräterinnen! Und daß sie als solche eine angemessene Strafe verdienen, ist gewiß auch Deinen Mitschwestern im Thendara-Gildenhaus klar. Der Eid und die Gebote der Comhi-Letzii gelten ja für jede(!) Entsagende - egal, woher sie kommt, was sie kann oder nicht ... ob ihre Haut grün-lila-blaßblau gestreift oder schwarz-weiß gepunktet ist ... und egal, ob sie ringel-kraus-gelockte oder knall-gelb-rot-gesträhnte Haare hat! (...)

Was mich übrigens sehr wundert, ist das Verhalten jener Bewahrerin, über die Du gegen Ende Deiner Botschaft berichtest. Da kann doch irgendetwas nicht ganz stimmen. Zwar kommt es ja wirklich oft vor, daß eine Bewahrerin keine Zeit für Besucher hat, aber dennoch sollte sie niemanden abweisen, der/die um Hilfe, Rat oder sonst etwas bittet. Auch nicht jemanden, der sich bei ihr "nur" ausheulen möchte und sie um Trost bittet. Zumindest sollte sie, wenn sie selbst nicht kann, eine andere Person des Turmes beauftragen, sich des Besuchers anzunehmen. Und wenn auch nicht über jedes Problem unbedingt ein/e Bewahrer/in bemüht werden muß, so ist diese/r aber schon alleine durch das Amt verpflichtet, wenigstens dafür zu sorgen, daß ein/e Bittsteller/in möglichst rasch die nötige Hilfe bekommt. Denn auch "kleine Wehwehchen", körperliche sowie seelische, beeinflussen die Energie und können zu Energie-Blockaden führen - und wenn nicht rechtzeitig etwas dagegen getan wird, können die Folgen sogar gefährlich werden. (...)

Wenn Du, geliebte Kris, tatsächlich den Wunsch hast, wieder in einen Turm zu gehen, kannst Du absolut gewiß sein, daß niemand auf Dich verwundert oder gar ablehnend reagieren wird. Denn schließlich lebten schon zu Zeiten Varzils des Guten viele Emmasca'in in den Türmen - und waren oft sogar Bewahrer/innen!

Außerdem könnte in keinem Turm wirklich gute Matrix-Arbeit geleistet werden (zumindest nicht auf Dauer), wenn sich die Leron'yn nicht miteinander vertragen würden. Auster und mein Vater haben das ja selbst erlebt ... Also kannst Du getrost sein, daß Du in jedem Turm gern aufgenommen würdest, bei dem Du darum ersuchst. Und gerade mich würde es ganz besonders freuen, Dich durch den Regenbogenschleier des Neskaya-Turmes einzulassen.

Gerade wieder denke ich an den "Großen Test" und an den Tag, bevor "es losging", als wir einen kurzen Moment lang in leichtem Rapport miteinander verbunden waren. Ferner empfinde ich noch heute jene eigenartige innere Wärme, die mich damals in der Matrix-Kammer so erfüllt hatte. Und noch heute bin ich über jenen wundervollen Beginn unserer nun schon so langjährigen Freundschaft sehr glücklich! (...)

Aber diese Erinnerung will ich natürlich nicht mißbrauchen, um Dich zu überreden, zu mir nach Neskaya zu kommen, denn das verstieße ja nicht nur gegen die Vernunft, sondern auch gegen meinen Bewahrer-Eid. Aber ich finde, Du solltest Dein Laran nutzen, es also irgendwie einsetzen, da es zu kostbar ist, um ganz brachzuliegen. (...)

Mein/e geliebte/r "Weich-Ohr-Emmasca", ich freue mich so sehr darauf, daß Du mich wieder besuchen willst! Am liebsten würde ich jenes Bäumchen (erinnerst Du Dich?) einen Freude-Rundflug um den Turm machen lassen! Allerdings dazu ist es natürlich längst zu groß. Inzwischen ist es ein richtig stattlicher Baum, der sogar fast schon zur Höhe "meines" Felsen herangewachsen ist. Aber da sind ja bereits einige recht niedliche Ableger ... Nun, wenn diesmal wieder so ein kleines grünblättriges "Flug-Objekt" durch die Gegend saust, so wirst ja jetzt sicher auch Du Spaß daran haben können, mit der Gewißheit, daß ich Lebewesen ohnehin nur dann in meine Laran- und Matrix-Spielchen einbeziehe, wenn sie sich dabei auch wirklich wohl fühlen.

Oh, Kris! ... nun muß ich dich ja wirklich um Verzeihung bitten, daß ich inzwischen so fürchterlich in Verzug geraten bin! Kurz nach unserem vorletzten Brief aus dem Terranan-HQ - den dritten, den Du mir innerhalb so kurzer Zeit geschrieben hast. Und ich muß Dir gestehen: Als einzige (und zugegebenermaßen etwas kümmerliche) Entschuldigung kann ich nur vorbringen, daß ich zur Zeit so viel "um die Ohren" (bzw. Matrix) habe und fast jeden Abend vor Müdigkeit ins Bett plumpse - nicht wegen meiner sonst so nützlichen Matrix-Eigenschaften "oben" (wo/was das ist, weißt Du ja!) bin ich so erschöpft, sondern dadurch, daß ich in letzter Zeit so oft zu Pferd unterwegs bin ... tagsüber!

Und da meine Wege in den seltensten Fällen in die Nähe eines der anderen Türme führen, ist es mir leider fast immer unmöglich, auf die mir liebste Art zu "reisen": Stell' Dir einmal vor, wie ein ahnungsloser Bauer, Wald-Arbeiter oder Hirte reagieren würde, wenn ich plötzlich und scheinbar aus dem Nichts vor ihm erschiene! Aber so etwas gestatte ich mir ja ohnehin nur dann, wenn ich einen einigermaßen glaubhaften Grund habe, die viele Tagesritte weiten Strecken zwischen den Türmen "abzukürzen". Außerdem ist es mir angenehmer, auf ein weiches, trockenes Polster zu purzeln, (...) zumal sich ja die Teleport-Schirme in jedem Turm in einer extra abgeschirmten Kammer befinden. Denn wenn ich in irgendeiner Pfütze landen würde, könnten weder meine Selbst-Abschirmung mit "Anti-Sichtschutz-Wall", noch andere Matrix-Tricks den Dreck von Hosen und Gewändern abhalten oder einen nassen Hintern verhindern ...

Jedoch eines ist noch sehr viel wichtiger: Durch derartiges In-Der-Gegend-Herumsausen würde ich sicher bald zu einer Art "Berühmtheit" gelangen, auf die ich (wie Du Dir bestimmt denken kannst) nicht gerade erpicht bin. Und ich bin froh, daß meine Lebende-Matrix-Eigenschaften nicht auch außerhalb der Türme bekannt sind, worauf ja schon meine Eltern und auch Callina geachtet hatten (Sie waren auch stets darauf bedacht gewesen, daß ich meine Laran-Spielchen "nicht zu öffentlich" spielte).

Also begebe ich mich brav zu Pferd an meine jeweiligen Ziele und tue dies in angemessener Würde stets in Begleitung - schließlich "geziemt es sich ja nicht, daß ein/e Bewahrer/in gänzlich ohne Eskorte reist"! Hi-hi, was wohl ein Räuber denken würde, der mich für eine leichte Beute hält und mich ... naja, falls ich ihn je "soweit" an mich heran ließe ... Allerdings brauche ich keine Angst vor etwaigen Angreifern zu haben, denn selbst wenn ich bewußtlos bin, kann ich mich darauf verlassen, daß mein Laran mich schützt. Außerdem trage ich ohnehin nur Hosen und betone dadurch (nach außen hin) meine geschlechts-neutrale "Natur". Allerdings will ich nicht leugnen, daß ich es irgendwie genieße, wenn Menschen, die mich noch nicht kennen, herumrätseln, ob ich eine Frau oder ein Mann bin (was sehr einfach ist, da Kopfblinde ja zumeist keine wirklichen Gedanken-Barrieren haben, und man daher schon die eigenen rappeldicht halten müßte, wenn man ihre Überlegungen nicht "mithören" will).

So, meine liebe Breda, dies ist wahrhaftig ein laaanger Brief geworden! Aber jetzt höre ich endlich auf, denn die Reit-Botin der Comhi-Letzii, der ich diese Botschaft noch mitgeben will, wartet schon mit ungeduldig schnaubendem Pferd, das übrigens aus edelster Alton-Zucht stammt! Also sende ich Dir zum Abschied noch rasch ein kleines blaues(!) Fünkchen zu, das gerade aus meinem Matrix-Beutelchen hervorkam und schon ganz ungeduldig auf dem Briefumschlag herumhupft ...

Alles Gute, Carya mea,

Adelandeyo,

Kieran

P.S. Ganz liebe Grüße von Ricardo und Annelys!

Kieran als Bewahrer

Im Laufe der Zeit erholte ich mich wieder, aber den Tod von Camilla kann ich heute noch nicht schildern, ohne daß mir die Tränen kommen. Dabei ist inzwischen fast ein Menschenalter vergangen! Meine jugendliche Unbeschwertheit habe ich nicht zurückgewonnen.

Kurz nach meiner Krisenzeit, als ich angefangen hatte, bei den Terranern im Raumhafen zu arbeiten, endete bei Kieran der Emmasca-Zustand, und es setzten bei ihm Bartwuchs und Stimmbruch ein.

Ähnlich soll es ja auch bei den Terranern einmal einen Volksstamm gegeben haben, wo die Geschlechtszugehörigkeit der Kinder erst in der Pubertät erkennbar wurde.

Ich war darüber übrigens etwas überrascht, weil Kieran vorher als Kind in seiner Art eher feminin wirkte. Aber ich habe gut reden; bin ich doch selbst in meinem Wesen nach Aussagen meiner Umwelt oft eher männlich als weiblich und wurde im Gildenhaus zeitweilig scheel angesehen, weil ich mich wie ein Mann bewege oder benehme.

Mit 15 Jahren wurde Kieran einer der Bewahrer des Turms von Neskaya. Er verwendete für sich den altertümlichen Ausdruck "Tenerezu", weil er der erste offizielle männliche Bewahrer seit der Zeit Varzil des Guten war und die heutige Sprache dafür keinen Ausdruck mehr hatte.

Wäre Kieran als Kind nicht emmasca gewesen, wäre er wahrscheinlich nicht zur Bewahrer-Ausbildung zugelassen worden trotz des Präzedenzfalles des "Verbotenen Turmes". So aber hatte er den größten Teil der Ausbildung bereits durchlaufen, als die Männlichkeit zutage trat. Kieran hatte es dann wohl nicht leicht, besaß aber genügend Willenskraft, um sich zu behaupten.

Seit Kieran als Bewahrer arbeitet, hatte er nur noch wenig Zeit. So sahen wir uns nur noch selten, aber diese Treffen waren dafür um so intensiver. Gelegentlich ging ich zum alten Turm von Thendara und trat mit ihm in Relais-Kontakt, und später, als sie sich im Neskaya-Turm ein terranisches Interkom zugelegt hatten, kommunizierte ich darüber mit ihm regelmäßig von meiner Arbeitsstelle im Raumhafen aus.

Wenn Kieran dienstlich nach Thendara kam, benutzte er manchmal den Teleportschirm, meist aber das umgebaute terranische Flugzeug, das mit Laran angetrieben wurde. Zu Pferd reiste Kieran nur ungern.

Wenn wir uns sahen, gingen wir oft Arm in Arm spazieren, entweder im Garten des Alten Turms von Thendara oder im Garten des Turms von Neskaya. Manchmal setzten wir uns dann auf eine Bank, ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und sah den Wolken zu, während Kieran auf seiner Rryll oder auf einem seiner antiken terranischen Instrumente spielte.

Dazu fällt mir folgendes Gedicht ein, was diese Situation beschreiben soll:

Ein Sommertag im Garten des Turms

Hand in Hand durch Wiesen laufend,
anschließend im Grase liegend,
ruhig wir lauschen der Musik,
die ganz sanft der Rryll entströmt,
sehend, wie die Wolken zieh'n
Schafen gleich durchs Firmament.

Lebend nur im Augenblick,
denk' ich nicht an morgen,
Schmerz und Unruh von Jahrzehnten,
werden gleichsam aufgelöst,
Und ich fühl', daß solche Stunden,
wiegen auf Äonen.

Schlußwort

Als Kieran letztes Jahr Darkover verließ, wartete ich lange auf Briefe von ihm. Ob er meine Briefe bekam, weiß ich nicht, nehme es aber an. Die interstellare Post ist recht zuverlässig, wie mir im Raumhafen gesagt wurde.

Im Turm von Thendara, wo ich nach Neuigkeiten über Kieran nachfragte, wurde mir gesagt, daß er kurz nach seiner Abreise versucht habe, mich über die Relais zu erreichen (nur Kieran schafft so etwas quer durch die Galaxis!), aber leider nie in den seltenen Augenblicken, in denen ich gerade im Turm vorbeischaute.

Im Neskaya-Turm hat sich Kieran überhaupt nicht mehr gemeldet, weder per Laran noch per terranischer Post. Ich war dann sehr traurig, und irgendwie vermisse ich ihn und unsere gelegentlichen Treffen sehr.

Manchmal frage ich mich, ob Kieran Darkover verließ, weil sein Laran nachließ, was ja bei älteren Leuten häufiger vorkommt. Aber so alt sind wir beide eigentlich noch nicht, auch wenn einige der Kinder, mit denen ich in Thendara aufwuchs, inzwischen Großmütter sind. Wir sind zwar nicht mehr die jüngsten, aber das Alter, in dem Laran nachläßt, haben wir doch wohl noch lange nicht erreicht. Mein Laran ist noch unverändert.

Ich bin wohl so alt wie Regis Hastur, und Kieran ist ein bißchen jünger als ich. Allerdings spüre ich schon stark, daß ich nicht mehr 20 Jahre bin. Auch Kati, mit der ich früher oft ausreiten war, als wir Reisegruppen als Eskorte begleiteten, reitet nur noch selten wegen ihrem Rücken.

Ich denke doch, daß Kieran wegen seiner Leidenschaft für Musik Darkover verließ und wegen des Wunsches, als normaler Mensch unter Menschen zu leben.

Möge es ihm in seiner neuen Welt gut ergehen. Aber wir vermissen ihn doch!

Kris n'ha Camilla

 

Die Begegnung mit Mata in Carthon

In der Übergangszeit, wo ich noch als Mann herumlief, aber schon weibliche Hormone nahm, machte ich einen Sprachkurs in Frankreich. Beim Umsteigen in Paris traf ich mich mit Martina, einer Bekannten von einer Freundin in Hamburg, die ebenfalls für einige Wochen in Frankreich war und ebenfalls Darkover-Fan war wie ich und meine Freundin in Hamburg.

Bei uns beiden knisterte es erotisch, was bei mir nur sehr selten vorkommt. Leider war Martina heterosexuell (und nicht lesbisch oder bi) und meine Transsexualität, das heißt, der Drang, selber Frau sein zu wollen, war zu stark, um sie wegen Martina unterdrücken zu können. Martina und ich sahen uns nur dieses eine Mal in Paris und später nie wieder. Als Darkover-Story schrieb ich die Begegnung folgendermaßen auf:

Kris n'ha Camilla erzählt:

Ich bekam endlich einmal wieder einen Reiseauftrag von meinen Chefs im Raumhafen: Ich sollte Kultur und Sprache in Glenn Karraga, einem Tal der Hellers, erforschen, einer ziemlich abgelegenen Bergregion. Seit der Zeit von Peter Haldane, Margalis Jugendfreund, war dort kein Terraner mehr gewesen, und die Terraner waren sich sicher, daß sich dort seitdem einiges geändert haben müsse. Damals waren z. B. die Nasallaute im Begriff gewesen, sich zu verändern. Ich war also gespannt, was mich erwartete und nahm auch (mit Sondergenehmigung) ein terranisches Sprachregistriergerät mit.

Bis Carthon konnte ich mich einer Karawane anschließen. Unterwegs kamen wir in Corressanti vorbei, wo mir Gwennis, eine alte Bekannte, die im dortigen Turm arbeitet, ein Päckchen für Mata in Carthon, einer Freundin von ihr, mitgab und mir Grüße auftrug. Hellerregion von Glenn Karraga. Dort mußte ich mich auch von der Karawane aus Thendara trennen und hatte einige Tage Aufenthalt, bis ich eine Reisegruppe in die Hellers fand. Da es in dieser Hellers-Region keine Gildenhäuser gibt, reiste ich sicherheitshalber als Mann verkleidet. Ich bin ja emmasca, und da geht so etwas recht gut.

Mata war gerade in der Stadt anwesend, was mir einen Umweg ersparte. Sie wohnt eigentlich auf einem Landgut einen halben Tag entfernt. Ich gab ihr das Päckchen von Gwennis und richtete ihr die Grüße aus. Wir bummelten dann zusammen durch die Stadt, die ich lange nicht mehr gesehen hatte. Vieles hatte sich verändert seit meinem letzten Aufenthalt dort. Damals hatte Camilla noch gelebt.

Zwischendurch setzten wir uns in eine Schenke, um uns aufzuwärmen. Mata war sehr niedergeschlagen. Ihr Vater war vor kurzem gestorben, es gab Mißernten, und ihr Bruder war suchtkrank (kiriansüchtig, glaube ich) und hatte viel Geld für seine Sucht ausgegeben, welches nun in der Kasse fehlte. Dann wurde auch noch der Coridom krank, und jetzt versuchte Mata ganz allein, den Hof vor dem Bankrott zu retten. Ihre Mutter ist zu alt, um sich noch um irgend etwas zu kümmern. Obendrein erwartet Mata jetzt einen Gerichtsprozeß wegen der Schulden des Hofes, aber sie wollte darüber keine Einzelheiten erzählen. Sie wollte an diesem Tag einmal an etwas anderes denken als an den drohenden Verlust des Hofes und wechselte das Thema.

Wir sprachen über den Raumhafen und die Terraner. Mata war schon einmal in Thendara gewesen und erzählte mir von der Begegnung mit einem Terraner vom Planeten Vulkan, der sie sehr begeistert hatte. Dann sagte sie mir, daß Gwennis ihr schon von mir erzählt habe, auch von meinem Emmasca-Sein. Mata fand, ich wirke auf sie eher männlich als weiblich. Dabei hatte mich aber die Kellnerin einige Minuten vorher trotz meiner männlichen Kleidung als "Mestra" angesprochen! Manchmal wirke ich zum selben Zeitpunkt auf verschiedene Leute völlig unterschiedlich.

Der Jako in der Schenke war ausgezeichnet, wenn auch ziemlich teuer. Womöglich verderben die Trockenstädter hier die Preise. Als wir uns genügend aufgewärmt hatten, setzten wir den Bummel durch Carthon fort. Ich spürte, daß sie sich nach Zärtlichkeit sehnte, und als sie mich beim Gehen öfter als normal streifte, hakte ich sie unter, und sie lehnte sich an mich, was wir wohl beide sehr genossen. Dabei sagte sie:

"Ich verstehe mich selbst nicht, daß ich so etwas tue. Das gibt es sonst bei mir nie."

Ich hingegen kenne das von mir sehr gut. Wenn es mir schlecht geht, dann sehne ich mich auch nach Umarmung, ohne verliebt zu sein, und ich denke, da ist nichts Unsittliches dabei.

Ich wollte gerne vom Gildenhaus erzählen, aber das interessierte sie nicht. Sie wollte irgend wann einmal heiraten, aber es sei schwer, einen Mann mit etwas Empathie zu finden, der sich auch für Frauen und das Heiraten interessiert, erklärte sie. Ich wollte sie nicht für das Gildenhaus werben. Beim Bürdenträger, nein! Ich bin zwar froh, die Gildenschwestern als Familienersatz zu haben, aber ich beneide jede Frau, die normal genug veranlagt ist und einen Mann findet, mit dem sie glücklich wird. Denn mein Ideal ist die echte Familie mit Kindern und Großeltern. Selbst wenn erlaubt wäre, für das Gildenhaus zu werben, würde ich es nur in Extremfällen tun (und dann würde ich es auch trotz des Verbotes tun, ich habe schließlich ein Gewissen).

Ich erzählte Mata daraufhin von meiner Übersetzer- und Dolmetscher-Arbeit bei den Terranern und den verschiedenen Sprachen Darkovers. Es war ein Thema, das sie sehr interessierte. Sie beherrschte Casta und mehrere Cahuenga-Dialekte und erklärte, sie würde gerne auch die Sprache der Terraner lernen. So eine Übersetzertätigkeit für die Terraner, wie ich sie ausübe, würde ihr auch gefallen. Ich forderte sie deshalb auf:

"Dann komm doch nach Thendara und bewirb dich im Raumhafen. Dort gibt es viele solcher Jobs."

Mata war unentschlossen. Sie wollte ihre Mutter nicht im Stich lassen. Sie könne sie auch nicht in eine fremde Stadt mitnehmen. Außer ihr gäbe es niemand in ihrer Verwandtschaft, der sich um ihre Mutter kümmern würde. Ihr Bruder fiele ja aus wegen seiner Sucht. Aber sie würde es sich noch überlegen ...

Zuletzt gingen wir eng aneinandergelehnt zu meiner Herberge zurück, wo sich die Reisegruppe in die Hellers formierte. Dort umarmte sie mich zum Abschied, daß mir die Sinne schwanden, und sagte leise, daß es die Umstehenden nicht hören konnten:

"Kannst du als Chieri-Emmasca nicht ganz zum Männlichen wechseln? Versuch' es doch!"

Ich sagte darauf nichts, dachte aber im Stillen, daß ich das ja ganz gerne täte, aber es wäre auch schön, wenn Mata ein wenig lesbisch wäre. Manche Halbchieri wechseln bisweilen das Geschlecht, aber ob ich zu diesen gehöre, weiß ich nicht. Außerdem können nicht einmal diese sich ihr Geschlecht nach Belieben aussuchen, soviel ich weiß. Als wir losritten, winkte Mata noch lange hinterher. Die nächsten Tage war ich innerlich sehr verwirrt und die Nächte voller Sehnsucht nach Zärtlichkeit.

Ein Umschlag ins Männliche trat nicht ein, wie es ja vielleicht nach dieser Abschiedsumarmung hätte sein können. Statt dessen verstärkten sich die weiblichen Körpermerkmale in der folgenden Langwoche, und ich hatte große Mühe, von den Mitreisenden nicht als Frau enttarnt zu werden. Aber (fast) alles ging gut, und ich kam unversehrt wieder zurück. Nur eine Wirtin war etwas mißtrauisch geworden und gab mir lieber ein separates Zimmer, als mich in den Schlafraum für Männer zu lassen. Was ich aber sonst in Glenn Karraga erfuhr und erlebte, das habe ich ausführlich in meinem Bericht für die Terraner beschrieben.

Kris n'ha Camilla

P. S. Die Nasallaute haben sich tatsächlich verändert. Es gibt dort auch nur noch einen langen "e"-Laut statt Zweien wie damals.

 

Die Jolly-Joker-Frau

Eine neue Science-Fiction-Serie ist an den Bahnhofskiosken aufgetaucht: "Shadow-Run", eine Serie, an der sich viele Autoren beteiligen. Diese Serie handelt von einer äußerst düsteren Welt des 21. Jahrhunderts, in der die Konzerne und die Mafia die Welt beherrschen und die Probleme von Armut und Umweltzerstörung noch schlimmer geworden sind. Obendrein ist die Magie auf die Erde zurückgekehrt und hat einen Teil der Menschheit in Trolle, Zwerge und schlimmeres verwandelt mit all den sich daraus ergebenden Problemen. Wenn aus so einer Welt jemand mit einer Zeitmaschine in unsere Gegenwart käme, könnte es sich wie folgt abspielen:

Ich saß mit einer Freundin in der Begine, einem Frauenlokal in Berlin. Die Musik war an diesem Abend zu öde zum Tanzen, und ich beobachtete die Frauen, die das Lokal betraten. Plötzlich kam eine Frau zum Eingang hinein, die mir bekannt vorkam. Sie trug sehr bunte Kleidung, die ungewöhnlich aussah, und hatte eine androgyne Figur und Gesicht sowie eine recht große Nase. Irgendwie ähnelte sie dem Jolly-Joker eines Kartenspiels, mit dem wir als Kinder gespielt hatten. Diese Kartenfigur war mir immer etwas unheimlich gewesen, und dieses Gefühl einer Art Angst überkam mich auch jetzt wieder.

"Die kenne ich doch!" sagte ich zu meiner Freundin.

Die Jolly-Joker-Frau bemerkte meinen Blick und hatte wohl auch gehört, was ich sagte. Sie zeigte mit dem Finger auf mich und murmelte:

"Vergiß!"

Ich hatte es als Kind nie ausstehen können, wenn jemand mit dem Finger auf mich zeigte und hatte sogar noch als Erwachsene Alpträume von Magie gehabt. In der Psychotherapie hatte mir meine Therapeutin, Frau Dr. P., geraten, mich in Zukunft in Träumen nicht gegen magische Angreifer zu wehren, diese seien ein abgespaltener Teil von mir selber, den ich integrieren müßte. Ich hatte mir daraufhin gedanklich dieses Verhaltensmuster eingeübt und war seitdem diese Art von Alpträumen losgeworden. Diese Jolly-Joker-Frau war natürlich kein Alptraum und kein abgespaltener Teil meiner Psyche. Dennoch reagierte ich mechanisch mit dem Vorsatz:

"Sauge die Magie in dich hinein und integriere sie in dein ‚Ich'."

Eine ungewohnte Kraft erfüllte mich. Was war das? Die Jolly-Joker-Frau zog sofort ihren Finger ein und zischte mich an:

"Drekhead - Du machst mir mit diesem Vampirzauber meine Zeitmaschine kaputt!" Sie überlegte eine Weile und fragte:

"Wer bist du eigentlich? Bist du auch auf Zeitreise? Magie gibt es doch im 20. Jahrhundert noch gar nicht!"

Die umstehenden Frauen spürten, daß da etwas nicht mit rechten Dingen zuging und rückten von uns ab. Die Fremde schnippte mit den Fingern und die Umstehenden versanken in eine Art Dornröschen-Schlaf. Das war ja wie in dem Darkover-Roman "Die Herrin der Falken"! Eine Frau mit Psi-Begabung (beziehungsweise "Laran", wie Psi auf Darkover heiß)! So jemanden wie diese Frau hätten wir in unserem Darkover-Club gebrauchen können. Nur schade, daß sie verrückt war. Die Existenz von Psi ist ja bewiesen, aber so etwas wie eine Zeitmaschine ist doch völlig unmöglich! Bestenfalls mentale Zeitreisen sind ja möglich, wie in dem Darkover-Roman "Der verbotene Turm". Aber diese Frau stand real vor mir!

Ohne eine Antwort abzuwarten, sagte die Jolly-Joker-Frau zu mir:

"Jetzt weiß ich, wer du bist: Du kommst aus dem 21. Jahrhundert und bist die Hexe Hanna, die 2039 im fliegenden Rollstuhl die Schwester des Elfenkönigs, ihre Großnichte, vor dem Überfall des Trolls mit dem Drachen gerettet hat! Aber du siehst jünger aus als auf den Holos."

Ich wurde ärgerlich:

"Noch bin ich gut zu Fuß und fahre Bus oder U-Bahn, aber nicht Rollstuhl."

"Dann hast du den Rollstuhl nur als Flugobjekt benutzt, und das mit deiner Gebrechlichkeit war nur Legende?" fragte die Jolly-Joker-Frau zurück.

Ich murmelte eine ausweichende Antwort; man soll Verrückten nicht widersprechen. Ich verkniff mir eine Antwort á la Loriot in der Art:

"Solange ich über geschlossenen Ortschaften nicht über 50 km/h fliege, ist es schließlich nicht verboten ..."

Statt dessen fragte ich höflich:

"Und wer bist Du?"

Die Frau zögerte kurz und antwortete dann:

"Ich bin eine Geschichtsstudentin aus dem 24. Jahrhundert. Ich soll mit einer magischen Zeitmaschine erforschen, woher die Gene für Magie des Elfenkönig-Geschlechtes stammen, ob von den Gast'schen Vorfahren aus Sachsen oder von den französischen Vorfahren. By the way - wußtest du, daß du der heiligen Johanna, der Cousine einer deiner französischen Vorfahren, sehr ähnlich siehst? Ich war vorgestern bei ihr und habe auch ihre Verbrennung auf dem Scheiterhaufen gefilmt. Willst du die Aufnahme mal sehen?"

Ich winkte ab. Ich hatte genug von der verrückten Frau. Aber woher bloß kam sie mir bekannt vor? Irgendwann in meiner frühen Kindheit gab es jemanden, vor dem ich Angst hatte und der so wie sie aussah. War diese Frau vielleicht Babysitter bei uns gewesen? Aber dann könnte sie nicht so jung aussehen. Die Jolly-Joker-Frau wirkte auf mich wie Anfang dreißig.

"Mir kommt es vor, als wäre ich dir schon einmal begegnet," sagte ich schließlich.

"Vielleicht in den fünfziger Jahren. Da war ich gestern und habe die Gene der Familie Gast sondiert. So was ist vor allem für Kinder nicht sehr angenehm, doch für die historische Forschung war es unerläßlich. Schließlich ist ja eines der Gast'schen Mädchen die Großmutter des ersten Elfenkönigs gewesen. Aber dich habe ich da nicht angetroffen. Eine "Hanna" mit dem Geburtsjahr 1953 war bei den Kindern nicht dabei, obwohl es in den Chroniken so erzählt wird."

Ich schmunzelte, und obwohl ich es Fremden selten erzähle, tat ich es diesmal:

"Ich bin transsexuell und wurde als Junge geboren."

Der Jolly-Joker-Frau blieb der Mund offen stehen. Geistig griff ich nach ihren Psi-Kräften und benutzte sie, um die Frau auf dem freien Stuhl neben mir und meiner Freundin zu plazieren. Wie eine Schlafwandlerin folgte sie meinem telekinetischen Griff.

"Daß ich mal ein Mann war, sieht man mir nicht an, was?" sagte ich lächelnd.

Damit habe ich schon öfters Leute verblüfft.

"Nein, das meinte ich nicht ... ich wollte sagen ... das erklärt alles" stammelte die Frau.

"Das Gen für magische Hochbegabung drückte sich in Zeitaltern ohne Magie bekanntlich irgendwie anders aus. Aber auf soetwas wie Transsexualität wäre ich nicht gekommen. Bei uns im 24. Jahrhundert kommen die besten Magier meist mit einem anderen Geschlecht auf die Welt, als es die Ultraschalluntersuchung der schwangeren Mutter hätte erwarten lassen. Sie wissen ja, pränatale sexuelle Goblinisierung bei magischer Höchstbegabung ..."

Sie unterbrach sich: "Drek, wenn ich noch mehr ausplaudere, kriege ich Ärger mit den Renraku-Cops, sorry."

Damit verschwand die Jolly-Joker-Frau aus dem Lokal.

Meine Freundin neben mir erwachte und räkelte sich: "Jetzt bin ich doch bei der langweiligen Musik fast eingeschlafen. Du auch?"

Ich nickte: "Und sogar geträumt habe ich!"


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